Landkreis Rotenburg. Er steht mitten auf der Kreuzung im Ortskern Reeßums: Es ist kurz nach halb neun am Abend, Thorsten Rosenbrock will nach dem kurzen Besuch eines Fastfood-Restaurants eigentlich nur fix nach Hause fahren als ein ungewöhnlicher Verkehrsteilnehmer ihm den Weg versperrt. Da es sich bei dem Wegelagerer seiner Einschätzung nach um einen Wolf handelt, rückt die schnelle Heimfahrt in Rosenbrocks Abendplanung nach hinten. Ganz oben steht nun die Verfolgung des Räubers ohne Scheu.
In aller Ruhe läuft das gesichtete Tier Richtung Sportplatz. Keine zehn Meter entfernt: Rosenbrock und ein Freund, der das Geschehen mit seiner Handy-Kamera aufzeichnet. „Der Wolf hat sich von uns nicht weiter stören lassen“, berichtet der 28-Jährige etwas verwundert von der nicht alltäglichen Begegnung. Angst habe er angesichts der sicheren Hülle des Autos nicht verspürt, eher eine Mischung aus Neugierde, Respekt und Faszination: „Ich habe noch nie zuvor einen Wolf gesehen, und jetzt läuft er vor mir mitten durch den Ort“, schildert er das Geschehen.
Rosenbrock ist nicht der erste, der das Tier innerhalb der Gemeinde oder in unmittelbarer Nähe beobachtet haben will: Einige Tage zuvor entstand auf einer Reitanlage bei Clüversborstel tagsüber ein Foto von einem Wolf, am Mittwoch wurde ein Tier zwischen Reeßum und Taaken aus einem Auto abgelichtet – ein kleiner brauner Punkt auf einer grünen Wiese.
Jürgen Cassier, Wolfsberater des Landkreises Rotenburg, ist über all diese Sichtungen im Bilde. Bei dem Tier, das auf der Clüversborsteler Aufnahme zu sehen ist, weiß Cassier sicher, dass es sich um einen Wolf handelt. Das ist ihm auch von der Landesjägerschaft so bestätigt worden. Bei dem Handy-Video aus Reeßum ist er sich indes nicht hundertprozentig sicher. Er hält es aber für sehr wahrscheinlich, dass es sich um das gleiche Tier handelt: „Besonders die Haltung des Schwanzes und die schwarze Schwanzspitze weisen darauf hin“, sagt er. Auch die wiederholten Sichtungen, die ihm gemeldet wurden, sprächen dafür.
Das etwa zweijährige Jungtier stammt nach Einschätzung Cassiers vom Truppenübungsplatz bei Munster. Das dortige Rudel sei groß genug und verstoße daher seine Zöglinge, sobald diese ein Alter zwischen zwei und drei Jahren erreichen. Eventuell ist der Wolf also einfach auf der Suche nach einem neuen Zuhause und nach einem Partner. Das bedeute keinesfalls, dass er tatsächlich in der Gemeinde bleibt.
Doch nicht nur in Rosenbrocks näherem Umfeld kam es in den vergangenen Tagen zu Wolfssichtungen: Auch bei Lauenbrück bekam ein Anwohner kürzlich ein Tier vor die Linse seiner Kamera. „Dass es sich dabei um ein und dasselbe Tier handelt, kann gut sein. Zwischen den Sichtungen liegen schließlich einige Tage“, erklärt Hermann Bassen, Mitarbeiter der Naturschutzbehörde des Landkreises Rotenburg. „Ich möchte aber auch nicht ausschließen, dass inzwischen zwei Wölfe im Landkreis unterwegs sind“, fügt er hinzu.
Die Meldungen über Wolfssichtungen reißen indes nicht ab: Am Freitag ereilte die Rundschau kurz vor Redaktionsschluss die Nachricht, dass wieder ein Wolf ohne Scheu bei Vorwerk aufgetaucht ist, keine zehn Kilometer Luftlinie von Reeßum entfernt. Roland Meyer aus Fischerhude berichtet von einem Wolf, der sich am gleichen Tag gegen 7.20 Uhr in der Frühe ruhig an seinem Auto vorbei pirscht. Auch Meyer zückt das Handy, schießt ein Foto und dreht ein Video durch das offene Fenster. Das Tier teilt sich ein Merkmal mit den anderen gesichteten: „Er war unglaublich zutraulich“, beschreibt Meyer die Begegnung. Ob es sich tatsächlich um das gleiche Exemplar handelt, wie bei den anderen Sichtungen, konnte bis Redaktionsschluss nicht geklärt werden.
Meyer meldet die Sichtung bei der Polizei, die ihrerseits die Info an den Wolfsbeauftragten weiterleitet. Auf Nachfrage der Rundschau erklärt Polizeisprecher Heiner van der Werp: „Ein Wolf fällt grundsätzlich nicht in den Aufgabenbereich der Polizei, es sei denn er verursacht eine Gefahrenlage.“ Sollte das Tier also beispielsweise jemanden angreifen – Wolfsberater Cassier hält das für sehr unwahrscheinlich – oder auf der Autobahn herumrennen, könnten die Beamten sich an die Fersen des Räubers heften. Bis es dazu kommt, ist für van der Werp jedoch klar: „Das ist nicht unser Bier.“ __________________________________________________ Was tun, wenn der Wolf kommt? Jürgen Cassier, Wolfsberater des Landkreises, gibt Entwarnung. Der Wolf sei nicht aggressiv. Für den Fall, dass man dem Tier begegnet oder dass es entgegen aller Erwartungen doch zu einem Riss kommt, hat er die richtige Handlungsweise parat. Der Experte sagt: Generell müsse man vor dem Jungtier keine Angst haben. „Nach dem, was mir bisher gemeldet wurde, zeigt es kein aggressives Verhalten.“ Der Wolf erkunde neugierig die für ihn unbekannte Gegend und werde beim Zusammentreffen mit Menschen eher ruhig beobachten und im Zweifelsfall die Flucht ergreifen. Wer dem Isegrimm oder einem möglichen zweiten Artvertreter begegnet, solle ruhig den Mut haben, ihn mit Händeklatschen zu erschrecken und zu verscheuchen. Die Alternative sei, sich ruhig zurückzuziehen. Panisches Weglaufen sei aber in keinem Fall der richtige Weg. Auch wenn Isegrimm bisher friedlich war: „Anfüttern sollten die Menschen ihn nicht“, rät der Wolfsberater. Und wer einen Komposthaufen im Garten hat, sollte diesen auch besser im Blick haben, fügt er hinzu. Dass der Wolf sich dort verpflege, sei nicht auszuschließen. Mit den aufklärenden Worten des Fachmanns ist zumindest schon einmal die Befürchtung des Landwirts Rosenbrock beseitigt, der in dem Tier zunächst eine Gefahr für Erwachsene und Kinder gesehen hat. Eine weitere Sorge: „Er könnte beim Milchhof vorbeikommen und sich die Kälber schnappen“, vermutet Rosenbrock. Vom Stall bis zum freien Feld sind es nur wenige Meter. Auch in dieser Hinsicht kann Cassier beruhigen – zumindest teilweise. „Natürlich sind Wölfe in der Lage, Kälber zu reißen, aber dieser scheint keine feindlichen Absichten zu hegen. Uns ist auch noch kein solcher Fall bekannt.“ Auch ein Rehriss, der kürzlich in Clüversborstel dokumentiert wurde, sei dem Wolf nicht zuzurechnen. „Das Reh hatte eine Schusswunde“, erklärt er. Auch ein Hund habe zugebissen, für weitere Bissspuren am Kadaver seien Greifvögel verantwortlich. Und sollte es doch einmal zu einem Angriff auf Vieh kommen? Wolfsberater Jürgen Cassier empfiehlt den schnellen Anruf auf seinen Apparat (04261/9832800), auch bei weiteren Sichtungen. Im Falle eines gerissenen Tieres sorgt der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) im Übrigen für Entschädigung. Zudem können sich Nutztierhalter dort melden, um Förderungen für nötige Präventionsmaßnahmen anzufordern, etwa für elektrische Zäune oder Herdenschutzhunde.