Diagnose Alzheimer – mit 57 Jahren

Unterstützung mit Kompetenz und Menschlichkeit: Dr. Katharina Bürger im Gespräch mit einer Patientin.
 ©ISD

Es ist ein Problem, das niemand verdrängen kann: Immer mehr Menschen erkranken an Alzheimer. Die meisten trifft es in hohem Alter. Doch manchmal schleicht sich das Vergessen schon früh ins Leben – wie bei Erika H., 57.

Erika H. ist eine sportliche, schlanke Frau Mitte 50. Sie trägt eine schicke rote Jacke und lächelt, als sie zu erzählen beginnt. Das tut sie oft. Keine schwere Krankheit spricht daraus. Doch will sie heute von ihrem Leiden berichten, damit anderen die lange Zeit der Ungewissheit erspart bleibt. In einer Reha habe schließlich ein Psychologe Verdacht geschöpft, erzählt sie – nach fast zwei Jahren quälender Odyssee von Arzt zu Arzt. „Das war so schlimm“, sagt die 57-Jährige – und ringt nach Worten. Sie blickt zu ihrem Mann, sucht Hilfe, um die Geschichte richtig zu erzählen. „Jetzt kommt der Alzheimer“, sagt sie und lächelt wieder.

Der Name der Krankheit geht ihr heute leichter über die Lippen. Als sich das Vergessen in ihr Leben schlich, gab es keinen Gedanken daran, dass Alzheimer dahinter stecken könnte. Das trifft doch nur alte Menschen, denken viele. Auch gab es in Erika H.s Familie keine Fälle. Ihre Mutter ist 80 Jahre alt, dabei geistig fit. Und Erika H. war gerade mal Mitte 50.

Auch stand sie mitten im Beruf: Viele Jahre lang hatte sie in einem Architekturbüro vollen Einsatz gebracht. Doch was früher leicht von der Hand ging, überforderte sie plötzlich. Sie begann, Dinge zu verwechseln, zu vergessen. „Ich brauche mal richtig Urlaub“, habe sie sich da gedacht. Doch auch eine längere Auszeit änderte nichts.

Ein Arzt stellte schließlich eine Diagnose: vermutlich Burnout. „Da gibt es eine gute Therapie“, hörte sie nach kurzer Untersuchung. Doch sei die keine Kassenleistung. Sie ging zum nächsten, um Ähnliches zu hören. EEGs, EKGs, MRTs, lange Fragebögen. Am Ende waren es 13 Fachärzte, Gynäkologen und Kardiologen, Neurologen und Psychiater. In Helmut H.s Stimme schwingt noch immer Verzweiflung, als er davon erzählt. Bei dem Gedanken an die Zeit stehen dem durchsetzungsstarken Mann die Tränen in den Augen. „Bilde ich mir alles nur ein?“, fragte sich Erika H. schließlich.

Demenzexpertin Dr. Katharina Bürger, bei der Erika H. heute in Therapie ist, wirbt indes um Verständnis, dass ihre Kollegen nicht auf die richtige Diagnose kamen. „Im Anfangsstadium ist das durchaus schwer zu erkennen“, sagt sie. Zudem gab es keine Fälle in der Familie. Und wer denkt bei einer vitalen Frau Mitte 50 schon an Alzheimer?

Erika H. zog sich immer mehr zurück. „Ich habe sehr viel geweint, damals“, sagt sie und blickt zu Boden. Dann kam ein Radunfall. Schuld war ein Autofahrer. Die Folge: ein komplizierter Schienbeinbruch. Danach beantragte sie eine Reha, um wieder auf die Beine zu kommen – nicht nur wegen des Bruchs. Die Rentenversicherung lehnte zunächst ab. Erst eine Beschwerde beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages half. In der psychosomatischen Reha am Chiemsee glaubte ein Psychologe nicht an die Diagnose „Burn-out“. Er schickte Erika H. nach Großhadern in die Ambulanz des Instituts für Schlaganfall- und Demenzforschung (ISD). Ein „großer Laden“ sei das Klinikum schon, meint Helmut H. Doch hätten seine Frau und er hier neben Fachkompetenz auch viel Menschlichkeit gefunden.

Rasch war ein Termin bei Dr. Katharina Bürger vereinbart. Es folgten Untersuchungen, um Krankheiten wie Störungen der Schilddrüse oder eine Depression, auszuschließen. Gedächtnistests bestätigen, was der Psychologe vom Chiemsee schon vermutet hatte. Bürger musste dem Paar die Diagnose mitteilen: Alzheimer. Erika H. war da 56.

„Wir haben beide geweint“, sagt Helmut H. und erzählt auch, wie einfühlsam die Ärztin reagiert habe. „Sie hat uns beide in die Arme genommen.“ Seine Frau sucht kurz nach Worten, sagt dann: „Sie hat uns aufgefangen, eigentlich.“ Denn: „Man verzweifelt schon – für sich selber.“ Doch war es auch eine Erleichterung. Der Name „Alzheimer“ beendete die Unsicherheit, das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Auch wenn die Wahrheit hart war: Jetzt konnte sich das Paar Hilfe suchen.

Diese war überaus wichtig. Denn die Diagnose brachte nicht nur Verzweiflung, sondern auch einen Wust von Formularen. Ein Antrag auf Erwerbsminderungsrente stand an. Das Paar musste sich durch 80 Seiten Behördendeutsch kämpfen, davon die Hälfte Rechtsbelehrung. Auch die Arbeitsagentur schickte 40 Seiten zum Ausfüllen. „Auch hier jede Menge Rechtsbelehrung – zur Absicherung der Behörde“, sagt Helmut H. Denn die Zeit, in der die Kasse Krankengeld zahlte, war nach 76 Wochen abgelaufen. Wütend rief Helmut H. dort an. Die Mitarbeiterin seufzte: „Ich mach ja auch nur meinen Job, das ist gesetzliche Vorgabe.“ Während der Renten-Antrag bearbeitet wurde, meldete sich das Arbeitsamt. Erika H. musste zum Jobcenter – trotz Alzheimer. „Unser Sozialsystem ist auf so was überhaupt nicht eingestellt“, sagt Helmut H.

Hilfe fanden sie bei der Münchner Alzheimer Gesellschaft – in menschlichen wie bürokratischen Fragen. „Wie wichtig diese Institution ist, kann man gar nicht in Worte fassen“, sagt Helmut H. Die Hürden, die ihnen die Behörden in den Weg gelegt haben, sind mit ihrer Hilfe genommen. Über die, welche die Krankheit ihnen in Zukunft stellen wird, will das Paar noch nicht nachdenken. Wie es weitergeht, wenn die Krankheit fortschreitet? Gemeinsam werden sie es schon meistern. Derzeit schafft Erika H. den Haushalt noch allein. Sie singt im Chor, töpfert gern. Dort weiß niemand etwas von ihrer Krankheit. Gemeinsam mit ihrem Mann macht sie viel Sport, fährt Ski und Fahrrad. „Auto gefahren bin ich ohnehin nie gern“, sagt sie. „Ich bin da ganz brav.“ Sie lächelt wieder.

Unterstützung bekommt sie auch ein Mal pro Woche von einem spezialisierten Psychologen. „Es ist schon gut so“, sagt sie und hofft, dass die Alzheimer-Medikamente helfen, dass es lange so bleibt. Sollte sie wirklich mal in ein Loch fallen, weiß sie, wo wie Unterstützung bekommt: menschliche Hilfe bei der Alzheimer Gesellschaft und medizinische beim ISD.

Expertin

Priv.-Doz. Dr. Katharina Bürger ist vom Institut für Schlaganfall und Demenzforschung (ISD) in Großhadern, Klinikum der Universität München. Dort betreut in der Gedächtnisambulanz ein multiprofessionelles Team Erkrankte und ihre Angehörigen.

Von Sonja Gibis

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