Rotenburg. Raus aus dem Tabu: Das ist ein Anliegen des Bündnisses gegen Depression, das derzeit mit einer Ausstellung im Rotenburger Rathaus über die Hintergründe von Suizid als auch über die Trauer der Angehörigen informiert. Wie lässt sich Betroffenen helfen, wie gehen ihre Angehörigen sowohl mit Suizid-Ankündigungen als auch mit dem Verlust um? Die Rundschau sprach mit Carsten Konrad, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Agaplesion Diakonieklinikum und Vorsitzender des Bündnisses gegen Depression im Landkreis Rotenburg, und dem Sozialpädagogen Andreas von Glahn, Vorsitzender des Vereins „Tandem – Soziale Teilhabe gestalten“ in Bremervörde und zweiter Vorsitzender des Bündnisses.
In dem Film „Ein letzter schöner Tag“, den das Bündnis gegen Depression im Begleitprogramm zur Ausstellung gezeigt hat, geht es um eine Familie, in der die Mutter an Depression erkrankt und sich das Leben nimmt. Mann und Kinder bleiben zurück, müssen ihr Leben neu finden und stellen sich die Frage nach dem Warum. Gibt es Warnsignale? Wie lassen sie sich deuten?
Carsten Konrad: Die gibt es auf jeden Fall. Suizidalität bahnt sich in den allermeisten Fällen über eine Verengung des Blickfeldes des Betroffenen an. Es gibt dabei verschiedene Stadien, die sich auch von außen erkennen lassen. Das beginnt damit, dass beim Betroffenen zunächst passive Todeswünsche auftreten: „Wenn ich morgen nicht mehr aufwachen würde, wäre das nicht schlimm.“ oder „Wenn ich einen Unfall hätte, wäre das nicht so schlimm.“ Das nimmt zu, bis der Betroffene denkt: „Ich möchte etwas dafür tun, dass es so kommt.“ Er beginnt, sich über eine Methode, wie er es anstellen könnte, Gedanken zu machen. Er steckt immer weiter in diesem schweren Konflikt. Und in dem ganzen Prozess sendet er immer wieder Signale aus und teilt sich mit. Denn das ist die schwierigste Entscheidung, die er in seinem Leben zu treffen hat, und darüber will er auch sprechen. Äußern Betroffene konkret: „Ich bringe mich um.“? Konrad: Ja, sehr oft ist das so. Es gibt dann die Schwierigkeit für den, der diese Signale bekommt, nun zu wissen, wie er reagieren soll. Viele sind da hilflos, sie schrecken zurück und überhören dann weitere Signale. Andreas von Glahn: Wenn Suizidalität im Alltag wächst, beispielsweise in einer Beziehung, ist das ein schleichender Prozess. Manchmal werden dann Signale einfach so abgetan.
Es gibt die landläufige Meinung, je mehr, je lauter jemand seine Suizidgedanken äußert, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass ersie auch umsetzt. von Glahn: Diese Meinung gibt es. Oder auch: „Er hat’s ja nicht geschafft, er wollte nur Aufmerksamkeit.“ Solche Sprüche habe ich schon gehört. Aber das ist hochgradig gefährlich. Genauso wie: „Das wird schon nicht so schlimm sein. Da hat er sich halt ein bisschen geritzt.“ Konrad: Aber diese Meinung ist falsch. Wir nehmen jede Ankündigung, jeden Versuch sehr ernst. Wir können nicht wissen, was in den Menschen vorgeht. Die Tabuisierung des Themas verhindert, dass die Ohren aufgehen. von Glahn: Das Wichtige ist: miteinander sprechen und zuhören. Und wenn das gelingt, werden geäußerte Suizidgedanken nicht einfach weggedrückt. Wenn dann jemand sagt: „Ich bin müde, ich will nicht mehr“, dann schrillen die Alarmglocken.
Beim „Werther-Effekt“ geht es um eine erhöhte Zahl von Nachahmern nach einem Suizid. Welche Rolle spielt dieser Effekt? Konrad: Suizidalität hat leider ansteckende Effekte. Wenn sich beispielsweise in der Klinik ein Patient etwas antut, müssen wir doppelt und dreifach auf die anderen aufpassen und ganz intensive Einzelgespräche führen.
Hilft das? von Glahn: Es ist zumindest extremst wichtig, einen Raum zu schaffen, ins Gespräch zu kommen. Die menschliche Beziehung ist einer der Hauptschutzfaktoren vor Suizid. Und wenn wir die stärken, haben wir viel gewonnen.
Wie kommt es, dass Suizid nach wie vor so ein Tabu ist? von Glahn: Auf einer Tafel der Ausstellung geht es um das Verhalten der Kirche zu diesem Thema. Und wenn man dann mal sieht, dass es beispielsweise in der katholischen Kirche bis 1983 gedauert hat, dass ein Mensch nach einem Suizid ein christliches Begräbnis bekommt, ist das noch nicht so lange her. Das ist aber ein klares Zeichen dafür, was da in der Gesellschaft passiert ist. Konrad: Es ist eine Hilflosigkeit der Menschen diesem Thema gegenüber. Und nach dem Suizid taucht sofort bei allen das Thema Schuld auf. Von der Mitteilung über den Suizid eines Angehörigen oder Freundes bis zum ersten Schuldgedanken vergehen keine 30 Sekunden. Wer hat etwas falsch gemacht? Wer trägt die Verantwortung für diese schreckliche Tat?
Was kann ich denn tun, wenn jemand mir gegenüber Suizidgedanken äußert? Einfach sagen: „Du Armer, wie kann ich helfen?“, „Hol dir Hilfe“, „Du kannst mich jederzeit anrufen“? von Glahn: Der erste Punkt ist gleich, den Kontakt zu halten. Und wenn jemand darüber spricht, ist das ja gegeben. Aber niemand darf sich anmaßen, er sei ein guter Therapeut oder Mediziner. Denn dann kommen schnell solche Ratschläge: „Wird schon nicht so schlimm sein!“ Viele Depressive hören sowas: „Ist doch nicht so schlimm, komm schon, die Sonne scheint!“ Grundvoraussetzung ist, dass es eine Kommunikation gibt, und die nicht unter- oder abgebrochen wird. Wenn wir nicht kommunizieren, haben wir keine Chance, hinzuhören. Konrad: Sie haben das schon ganz richtig gesagt: „Du Armer!“ Sie äußern Empathie. Es war nicht dieser typische Gesprächsblocker nach dem Motto „Wird schon nicht so schlimm sein!“ oder „Geht sicher bald besser“. Sondern Sie nehmen die Sache an, zeigen Mitgefühl. Sie sagen: „Hol dir Hilfe!“ Sie selbst sind nicht für weitere Hilfeleistungen qualifiziert, aber Sie können helfen, dass der Betroffene Mut fasst und sich anderen anvertraut. Und Sie sagen: „Du kannst mich jederzeit anrufen!“ Sie lassen den Kontakt nicht abbrechen, Sie sind im Hilfesystem dabei. von Glahn: Anders geht es auch nicht. Es ist immer ein Prozess: Ich bin erst einmal da und höre zu, wenn sich jemand äußert.
Wenn sich jemand äußert, wie schwierig ist es dann, auch Hilfe zuzulassen? Ist die Person dann schon dafür offen? von Glahn: Ich bin froh, wenn er sich äußert, denn dann hat er ja schon die Tür aufgemacht. Nun besteht die Kunst darin, wie ich damit umgehe. Natürlich gibt es auch die Menschen, die sehr gut schauspielern und ihre Suizidgedanken verbergen. Dann haben auch die Umgebung und auch professionelle Helfer es schwer.
Gibt es ungefähre Vermutung, wie bei Suizidfällen das Verhältnis ist zwischen denen, die sich anvertrauen, und denen, die ihre Gedanken für sich behalten? Konrad: Es gibt keine konkrete Zahlen. Aber die meisten senden vorher Signale aus – an den Arzt oder an andere Vertrauenspersonen. Es ist sehr selten, dass jemand so eine Entscheidung mit sich allein ausmacht. Deswegen wollen wir für das Thema sensibilisieren und Angehörigen die Gelegenheit geben, die Ohren aufzumachen und das Thema ernst zu nehmen. von Glahn: Die Erfahrungen haben wir immer wieder gemacht: Wenn man über dieses Thema tabufrei spricht, dann schlackern einem die Ohren, was man plötzlich alles hört. Konrad: Allein, was seit Beginn der Ausstellung an Rückmeldungen gekommen sind, unter anderem von Menschen, bei denen ich es nicht geahnt hätte. Die beispielsweise eine schwere Last daran tragen, dass sich ein Angehöriger das Leben genommen hat. von Glahn: Wir vom Bündnis gegen Depression wollen Anlässe schaffen, einen Raum dafür bieten. Dann erfahren wir von den Leuten sehr, sehr viel. Und das ist gut. Aber es muss normaler werden: Je mehr Gelegenheiten wir schaffen, desto normaler wird das Thema.
Was muss dafür passieren? von Glahn: Was wir gerade tun: ein Bündnis schaffen und mit Leben füllen. Konrad: Aber wir wollen nicht einfach nur darüber reden, dann kommen wir ja in die Ecke „Werther-Effekt“. Was wir konkret machen ist, Wissen über Hintergründe und Entwicklungsstadien zu vermitteln. Die Menschen mit einem Wissenstand ausrüsten, mit denen sie in solchen Situationen besser umgehen können. Und Lösungswege aufzeigen, die helfen, Suizide zu verhindern. Aber die Prävention ist nur das Eine. Der andere ganz große Teil ist die Trauer der Angehörigen. Denn die bleiben auch aufgrund des Tabus oft alleine.
Ist die Trauer anders, als nach einem Tod durch einen Unfall, Krankheit oder Alter? von Glahn: Ja. Denn bei den übrigen Gründen ist klar, wie es passiert ist. Aber Suizid? Da bleibt oft die Frage nach dem Warum. Konrad: Die Motivation zum Suizid ist ja für einen gesunden Menschen kaum nachvollziehbar, das bleibt unbegreiflich – im wahrsten Sinne des Wortes. Und dann kommt der Schuldgedanken dazu: Hätte ich es merken müssen? Hätte ich den Menschen davon abhalten können? Und diese Unbegreiflichkeit und die Schuldgefühle, die ergeben eine ganz ungute Mischung, die dafür sorgt, dass man mit dieser Trauer nicht mehr gut klarkommen kann.
Wo finden sie Hilfe? Konrad: Ich hatte das Gefühl, dass das Angebot hier im Landkreis nicht spezifisch genug ist. Es gibt Selbsthilfegruppen für Trauernde, es gibt sie für Depressive, aber die Gemengelage an verschiedenen Gefühlen, die ist bisher im Landkreis nicht gut repräsentiert. Wir sind daher auf Agus (Angehörige um Suizid, Anm. der Redaktion) und Brigitte Klußmann gestoßen – und sind froh über das Auftakttreffen zur Gründung einer Agus-Gruppe im Landkreis Rotenburg am Mittwoch, 16. Mai, um 19 Uhr in der Begegnungsstätte Quab in Zeven.
Wenn ein erkrankter Mensch es schafft und zum Arzt geht, bleibt ja noch der Umgang mit ihm im Alltag. Wie verhalte ich mich da? von Glahn: Da wird es individuell: Wir sind da in einem Mischmasch, wo wir beispielsweise als Verein „Tandem“ in Bremervörde feste Strukturen für erkrankte Menschen anbieten. Aber das ist noch kein therapeutischer Bereich. Konrad: Es gibt einige psychosoziale, niedrigschwellige Angebote, wie unter anderem die Telefonseelsorge sowie Einrichtungen wie die Geso (Gesellschaft für soziale Hilfen) in Rotenburg oder Tandem.
In den vergangenen Jahren gab es mit den Fußballern Robert Enke und Andreas Biermann auch prominente Suizidfälle. Beide waren Profisportler. Welche Rolle spielt Leistungsdruck? Konrad: Der Leistungsdruck verhindert, dass man auf seine eigenen Bedürfnisse achtet und, wenn man in der Öffentlichkeit steht, sich jemanden anvertraut. von Glahn: Schwächezeigen gehört nicht zum Fußballprofi – und Depressionen sind eine Schwäche. Andreas Biermann hat das bei einer Lesung in Bremervörde mal ausgedrückt – seine große Verzweifelung – und gesagt, er würde niemandem raten, sich als krank zu outen. Er hätte keine Chance auf einen Vertrag, denn welcher Fußballclub stellt einen Profi mit Depressionen ein? Nach dem Tod von Robert Enke kam zwar der Aufschrei, und es wurde viel, auch vom DFB, versprochen. Aber Andreas Biermann hat nie eine Rückmeldung vom DFB bekommen. Er ist ein Paradebeispiel dafür: Lass die Finger davon, wenn du in diesem Leistungsdruck weiter existieren und dein Geld verdienen willst. Konrad: Es gibt da Gepflogenheiten in der Gesellschaft, die wir nur schwer ändern können. Wir raten nicht dazu, Suizidgedanken öffentlich zu äußern. Aber es ist ganz wichtig, dass sich Betroffene einer Vertrauensperson anvertrauen, und dass diese Hemmschwelle sinkt.
Ist so ein Outing, wie bei Biermann, trotzdem lobenswert? von Glahn: Es war seine Art und Weise, mit dem Thema umzugehen. Gesellschaftspolitisch ist es gut, dass er es gemacht hat. Aber dahinter steckte auf keinen Fall die Intention, dass das nun alle so machen sollten.
Ist so etwas dennoch ein Versuch der Enttabuisierung? von Glahn: Ja. Da ist das Beispiel mit der Robert-Enke-Stiftung: Was da alles bewegt wird, und wie wir davon auch als Bündnis hier im Landkreis profitieren – das ist sehr wichtig. Konrad: Bestimmte Identifikationsfiguren gehen voran, und das ist für uns eine gute Sache: Prominente, die sich trauen, ein Tabu zu brechen. Aber letztlich gibt es für alle professionellen Helfer die Schweigepflicht, jeder kann sich absolut sicher sein, dass solche Dinge nicht weitergeplaudert werden. von Glahn: Wir hatten vom Tandem schon Veranstaltungen, bei denen ich Personen des öffentlichen Lebens sah und merkte, wie sich jeder fragte: „Was macht der hier? Warum ist der da?“ Dass sie den Mut haben, bei diesen Veranstaltungen zu erscheinen, das war ein Moment, in dem ich dachte: Da tut sich was in der Gesellschaft.
Die Ausstellung ist noch bis Freitag, 27. April, im Rotenburger Rathaus zu sehen. Carsten Konrad informiert zudem am Mittwoch, 25. April, über das Thema „Suizidalität bei psychischen Erkrankungen – Hintergründe und Therapiemöglichkeiten“. Beginn des Vortrags ist um 19 Uhr im Ratssaal des Rotenburger Rathauses.