Von Selbsthilfegruppen und Sauklauen: Ahnenforscher auf der Suche nach familiären Wurzeln - Von Nina Baucke

„Das fixt schon an“

Zahlreiche Archivbestände sind mittlerweile digitalisiert und online verfügbar. Foto: Nina Baucke
 ©Rotenburger Rundschau


Landkreis Rotenburg. Mit einem metallischen Ächzen setzen sich wuchtige Regalelemente in Bewegung, als Kreisarchivar Sönke Kosicki an einem der Blöcke dreht. Zentimeter um Zentimeter rollen sie auseinander und geben den Blick auf Fächer mit hellgrauen Kartons, alten Buchrücken und Karteikästen frei. Es riecht nach altem Papier, und ein bisschen auch nach Geheimnis und Vergangenheit – nicht nur zur Geschichte des Landkreises an sich, sondern auch zu der vieler seiner Bewohner.

Zwischen den Buchdeckeln und in den Kästen ruhen Daten zu etlichen Menschen, die in den vergangenen etwa 350 Jahren zwischen Bremervörde und Visselhövede gelebt haben – ihre Geburtsdaten, der Tag ihrer Hochzeit und auch der ihres Todes. In ihrer Masse sind sie Registernummern und Statistiken, doch für Einzelpersonen werden sie zu Puzzlestücken der eigenen Geschichte. „Ein Großteil der Anfragen, die wir so bekommen, sind von Familienforschern“, sagt Kosicki. „Und mittlerweile ist da mindestens einmal die Woche auch eine aus dem Ausland dabei, aus den Vereinigten Staaten beispielsweise, oder aus Argentinien.“
Dabei dreht es sich nicht immer darum, eine Ahnentafel zu erstellen. „Da geht es auch um rechtliche Fragen, beispielsweise bei Erbschaften“, weiß Kosicki.
Die Menschen, die im Kreisarchiv auf Spurensuche sind, können Kosicki und seine Kollegen in mehrere Gruppen einteilen. „Da sind viele, die ständig hier sind und sich mit Familiengeschichte sowie der Vergangenheit eines Ortes oder

eines Kirchspiels auseinandersetzen“, sagt der Archivar. „Aber es gibt auch die Spontanbesucher, die nach etwas Konkretem auf der Suche sind.“
Doch was macht die Faszination Familienforschung aus? „Diese Frage stelle ich mir seit gut 30 Jahren. Aber einen Vogel darf ja jeder haben – und das ist meiner“, sagt Marie Renken und lacht. Hinter ihr hängt ihre Familiengeschichte an der Wand, mehrere Generationen in alten Porträtfotos, vor allem ernste Gesichter in dunkler Kleidung. „Familiengeschichte interessiert mich seit Langem“, sagt die 67-jährige Oytenerin. Ein möglicher Grund dafür ist ihre eigene Geschichte: Ihre Eltern flohen mit ihr als Baby aus der DDR in den Westen. „Wir haben zwar immer Kontakt mit der Verwandtschaft gehalten, aber mir fehlte das Miteinander im Alltag.“ Sie begann, sich auf die Suche zu machen – erst nach Generationen ihrer eigenen Familie, dann der ihres Mannes und später auch für andere, denen sie dabei hilft, eine Ahnentafel zu erstellen. Wenn sich Renken in ihren Forscherkreisen umsieht, sieht sie vor allem Ältere. „Die haben einfach mehr Zeit und oft auch ein anderes Bewusstsein dafür“, ist die Oytenerin überzeugt. Nichtsdestotrotz machen sich auch vermehrt Jüngere auf Spurensuche: „Es ist auf jeden Fall mehr als noch vor zehn Jahren“, sagt Kosicki. „Mittlerweile sitzen auch oft Schüler bei uns.“ Was vor allem für Jüngere die Tür geöffnet hat, ist das Internet: „Wir haben jetzt große Teile der Register digitalisiert und online verfügbar gemacht.“ Ein Schritt, der auch Renken begeistert: „So ist Forschung von zu Hause aus möglich. Und ich bin unabhängig von Archivöffnungszeiten.“
Digitalisierte Archivbestände sind das eine, reichlich Zulauf finden aber auch zumeist kostenpflichtige Netzwerke wie myheritage.de und ancestry.de. „Myheritage ist in Augen vieler unseriös. Wenn man seine Daten wieder haben will, werden sie nicht wirklich gelöscht“, sagt Renken.
Auch Hobbyforscher Günter Bassen sieht die Plattform eher kritisch: „Jeder kann da seine Daten hineinstellen, manche recherchieren gut, andere kopieren einen Fehler zum fünften Mal.“ Anders sei es schon mit Ancestry: „Da basieren die Daten immerhin auf verlinkten Urkunden. Aber man darf auch nicht vergessen: Die, die das alles eingepflegt haben, waren Amerikaner. Wenn wir schon immer wieder Probleme haben, alte Schrift zu lesen, wie sollen das denn die Amerikaner machen, denen die Namen der Ortschaften überhaupt nicht geläufig sind? Dabei ist Datenqualität ein ganz wesentlicher Punkt.“
Bei dem 57-Jährigen aus Klein Meckelsen sucht man dicke Ordner und reihenweise Bücher vergebens. Er mag es etwas kompakter: „Alles ist hier drin“, sagt er mit einem Lachen und klappt den Laptop auf. „Jeder Familienforscher hat sein Spezialgebiet.“ Seines sind Ortsfamilienbücher. Listen, in denen die Daten aus den Registern nach Ortschaften und Familien sortiert sind und zu großen Teilen auch öffentlich auf Seiten wie www.compgen.de im Internet einsehbar sind – in Bassens Fall für Borchel und inzwischen auch für Rotenburg. Mittlerweile füllen ganze Datenbanken seinen Laptop, „da kann ich schon ziemlich verlässliche Informationen liefern“, sagte Bassen, der seine eigenen Vorfahren sieben Generationen weit zurückverfolgt hat. Doch für ihn hat das Hobby Familienforschung weniger die persönliche Komponente: „Ich bin kein Geschichtenschreiber, ich sammele Fakten und liefere das Gerüst für andere.“ Für ihn hat das, was er mittlerweile intensiv seit mehr als 20 Jahren macht, den Reiz von Detektivarbeit. „Finden wir eine bestimmte Person nicht in einem Register, geht es darum, herauszufinden, warum – und wo sie tatsächlich aufgeführt ist. Das ist reizvoll, braucht aber manchmal Kombinationsgabe. Das ist wie Rätsellösen, und dabei ist Teamarbeit wichtig, oft führen nur viele Ideen zum Ziel.“ Das Team: eine ganze Reihe von Gleichgesinnten, die sich zu Netzwerken zusammenfinden. „Wenn ich eine Frage stelle, bekommen das dank Mailinglisten sehr viele. Und manchmal muss ich gar nicht lange warten, bis ich eine Antwort habe. Das ist die halbe Miete: Vernetzung. Du suchst etwas, kommst nicht weiter, und jemand anders hat dann die Information.“
Aber nicht nur digital, regelmäßig gibt es den Informationsaustausch auch ganz analog: Bassen ist bei den Ahnenforschern Buxtehude und der Ahnenforschergruppe für die Oste-Wümme-Region aktiv – seine „Selbsthilfegruppen“ nennt er sie mit einem Augenzwinkern. „Bei den Treffen sind wir etwa 17 bis 18 Leute, aber wir versuchen, jedem zu helfen, der spontan mit Fragen dazukommt.“
Eine Herausforderung stellt immer wieder die Schrift dar: „Da spielen viele Dinge eine Rolle, wir sagen immer ein bisschen gehässig, ob der Pastor den Abendmahlswein abgeschmeckt hat. Aber auch, ob der Federkiel und die Tinte gut waren“, sagt Renken. Auch Bassen weiß: „Ich muss mich einlesen, ein Seitenausschnitt ist oft wenig hilfreich, ich brauche die ganze Seite, um die Buchstaben zu vergleichen und die jeweilige Struktur der Einträge zu verstehen.“ Denn bevor es mit der Einführung der Standesämter 1874 vorgedruckte Formulare für Geburten, Trauungen und Todesfälle gab, waren die einzelnen Kirchspiele an keine einheitliche Form gebunden. Und das wird umso kniffeliger, umso älter die Dokumente sind. Die Bestände in Rotenburg zum Beispiel reichen bis in das Jahr 1681 zurück. „Das dauert, da geht es oft um jeden einzelnen Buchstaben“, erklärt Bassen. Nur wenige Jahre weiter zurück enden die Register: „Wenn jemand seine Familie bis zum Dreißigjährigen Krieg zurückverfolgen kann, ist das schon klasse. Oder wenn man Angaben zu jemanden hat, der 1651 im ungefähren Alter von 80 Jahren gestorben ist, kommt man zumindest noch ein bisschen in das 16. Jahrhundert“, erläutert Renken, bei der vor allem für solche Fälle immer eine Lupe auf dem Schreibtisch liegt. „Aber weiter zurück gibt es keine Unterlagen, erst danach gab es die Verordnung, Kirchenbücher zu führen. Und wenn es etwas gab, ist es oft im Dreißigjährigen Krieg vernichtet worden.“ Auch unterschiedliche Schreibweisen machen es nicht leichter: „Als Kathrine geboren, heiratet sie als Katharina und stirbt als Catherine“, bringt es Bassen auf den Punkt.
Für viele Menschen, die in mühevoller Kleinarbeit, oft über Jahre und Jahrzehnte hinweg ihre Ahnentafel zusammenstellen, ist es Geschichtsinteresse, vermutet Kosicki. „Man entdeckt eine Kiste mit Fotos, darunter dass eines Ururgroßvaters in Uniform, und ein vorher trockenes Thema wie der Erste Weltkrieg wird dann persönlich. Das ist etwas, dass schon irgendwie anfixt.“
Das erlebt auch Renken, als sie viele Jahre nach der Wende den Herkunftsort ihrer Familie in Mecklenburg-Vorpommern besucht und in einer Kirche ein altes Taufgeschirr sieht, das ihre Familie zum Ende des 19. Jahrhunderts der Gemeinde gestiftet hatte. „Dinge wie dieses Taufgeschirr sind für mich greifbare Berührungspunkte mit meinen Vorfahren“, sagt Renken, die sich derzeit bei dem Aufbau eines Oytener Gemeindearchivs engagiert. „Und von ihren Genen sowieso, aber auch von ihren Lebenserfahrungen, von allem, was sie waren, steckt auch etwas in mir.“

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