VON MATTHIAS RÖHRS

Der Kriegsverbrecher nebenan

Den Gedenkstein möchte die Gemeinde Sottrum schnell vernichten. © Röhrs

Zwei Namen, ein und dieselbe Person: Während ein Dorf eines Gefallenen aus seinen Reihen gedenkt, lebt er nur ein paar Kilometer weiter mit neuer Familie. Was die Dorfgemeinschaft und seine früheren Nachbarn erst jetzt erfahren: Als Gestapo-Mitarbeiter hat er bis 1945 wohl mehrere hundert Menschen getötet.

Stuckenborstel/Achim – Sie wurden belogen. Als das Dorf Stuckenborstel bei Sottrum 1957 sein Gefallenendenkmal einweiht, würdigt es auch Franz Ernst Kurt Wulkau mit einem Gedenkstein. Viele Jahre noch kommt die Dorfgemeinschaft zum Volkstrauertag dorthin, um ihm und den anderen Gefallenen beider Weltkriege zu gedenken. Was sie nicht weiß: Zum Zeitpunkt der Einweihung ist Wulkau noch lange nicht tot, sondern als mutmaßlicher NS-Kriegsverbrecher lediglich untergetaucht. 67 Jahre später soll Schluss sein mit dieser Würdigung.

Es ist eine befremdliche und bizarre Geschichte, die tief eintaucht in von Nationalsozialisten verübte Grausamkeit und Terror, die Bigamie genauso zum Bestandteil hat wie Blutbäder.

Eine Annäherung

Am besten fängt man hinten an. Dort stehen Bürgermeister Hans-Jürgen Krahn und Erste Samtgemeinderätin Kerstin Wendt am Stuckenborsteler Denkmal mit der zentralen Inschrift „Neige Dich vor Tod und Tapferkeit“. Die Toten des Zweiten Weltkriegs sind hier auf einzelnen Steinen verewigt, die das Areal einrahmen. Viele Jahre lang konterkariert Wulkau den Gedenkspruch. Die Gemeinde Sottrum, deren Ortsteil Stuckenborstel ist, steckt mittendrin in der Frage, wie sie ihre Erinnerungskultur an das Dritte Reich leben möchte. Erst im Februar sind im Ortskern Stolpersteine verlegt worden, die an die jüdische Familie Moses erinnern. Deren Mitglieder wurden von den Nazis vertrieben und ermordet. Das Gedenken an die Opfer ist das eine. Aber wie geht man mit den Tätern um?

Zumindest in diesem Fall soll der Gemeinderat am Montag eine Entscheidung treffen. Man möchte kurzen Prozess machen und den Stein mit der Aufschrift „Kurt Wulkau – verm. 1945“ entfernen und vernichten. Da waren sich die Ratsfraktionen informell schnell einig, erläutert Krahn. Die hinterlassene Lücke soll erhalten bleiben. Nachdem Wulkaus wahre Lebensgeschichte belegt war, habe man die Familien informiert, berichtet der Bürgermeister. „Wichtig war uns, schnell zu handeln.“ Bereits am nächsten Volkstrauertag soll der Stein nicht mehr stehen.

Auf Wulkaus Stein in direkter Nachbarschaft zu den tatsächlich gefallenen Söhnen des Dorfes steht natürlich nichts von seinen Taten. Nicht, dass er mutmaßlich Tausende Menschen selbst erschossen hat, mindestens aber war er beteiligt an den von den Nationalsozialisten durchgeführten Massenmorden hinter der Ostfront. Dort steht nicht, dass er später untergetaucht war, um sich nicht verantworten zu müssen. Weder vor einem Gericht in Deutschland noch in Polen, wo nach dem Krieg vielen Tätern die Todesstrafe drohte. Dort steht ebenso wenig, dass er noch bis 1978 in Achim lebte.

Wer ist Kurt Wulkau?

Ein kurzer Abriss von Wulkaus Steckbrief: Er wird 1906 in Berlin-Wannsee geboren, heiratet 1933 eine Stuckenborstelerin, lebt mit ihr in Bremen, wo er in den Polizeidienst eintritt. Er geht zur Gestapo, tritt der SS bei, wirkt nach Kriegsbeginn in Osteuropa in mobilen Einsatzkommandos mit, heiratet 1943 unter falschen Namen eine weitere Frau, lebt mit ihr ab 1946 in Achim-Baden, stirbt 1978.

Seine eigentliche Frau, inzwischen ins Stuckenborsteler Elternhaus zurückgekehrt, meldet ihn 1950 als vermisst, lässt ihn 1957 für tot erklären. In dem Jahr wird auch der Gedenkstein aufgestellt. Es war üblich, auch Angehörige von Dorfbewohnern zu berücksichtigen, selbst wenn sie nicht von dort stammten.

Claudia Koppert hört im Frühjahr 2024 davon, dass am Stuckenborsteler Ehrenmal etwas nicht stimmt, dass möglicherweise ein Kriegsverbrecher gewürdigt wird. Die Autorin engagiert sich im jüdischen Museum Cohn-Scheune in Rotenburg, hat bereits zur Sottrumer Familie Moses geforscht und die Stolpersteinverlegung unter anderem mit Vorträgen begleitet. Sie habe festgestellt, dass die Sottrumer interessiert sind am Dritten Reich und dessen Auswüchse vor Ort, berichtet sie. „Es ist wichtig, dass Gedenken nicht allgemein, sondern mit konkreten Personen verknüpft ist.“

Der Unmittelbarkeit dieser Angelegenheit fasziniert. „Geschichte ist auf einmal greifbar geworden“, sagt Kerstin Wendt. Deshalb berühre der Fall Wulkau die Leute.

Seinen Namen hatte Koppert nach dem Hinweis noch nicht, nach einer ersten Netzrecherche blieb nur noch Wulkau als Verdächtiger übrig. Wo er sich während des Zweiten Weltkriegs aufhielt und mit welchen Aufgaben er betraut war, lässt sich immer noch gut nachvollziehen. Unter anderem in einer Bewerbung an den Kolonialdienst listet er sie zum Teil selbst auf, Briefwechsel zeugen von einem regelmäßigen Kontakt mit dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin. Koppert hat über Bundes- und Landesarchive Dokumente zu Wulkau zusammengetragen und der Forschungsliteratur gegenübergestellt.

Wulkau im Krieg

Diesem eigenen Lebenslauf zufolge nimmt er am Einmarsch in Polen teil – als Mitglied einer Einsatzgruppe, die hinter der nach Osten rückenden Wehrmacht Tausende Intellektuelle, Klerus-Angehörige und vor allem Juden ermordet. „An der Front waren die nie“, räumt Koppert jeglichen Verdacht auf die am Stuckenborsteler Denkmal glorifizierte Tapferkeit vom Tisch. Anderthalb Jahre lang ist er Mitarbeiter des Kommandanten der Gestapo im südpolnischen Zakopane, die in einem Hotel Hunderte Menschen verhörte, folterte und tötete.

Ab Sommer 1941 ist er Teil einer mobilen Sicherheitspolizei-Truppe hinter der Frontlinie. Es ist das „Einsatzkommando z. b. V.“ – „zur besonderen Verwendung“, ein Euphemismus für die Durchführung von Massenmorden und vor allem die Erschießung von Juden. Wulkau wird Abteilungsleiter in der Sicherheitspolizei- und SD-Außenstelle Stanislau – heute das ukrainische Ivano-Frankiwsk.

Die Forschung zeigt: Die Dienststelle wird zu einer der brutalsten Mordeinheiten der nationalsozialistischen Herrschaft insgesamt. Lebten dort im Sommer 1941 bis zu 90 000 Juden, waren sie Ende 1942 fast alle ermordet. Der 12. Oktober 1941 geht als „Blutsonntag von Stanislau“ in die Geschichte ein. Auf dem jüdischen Friedhof erschießen Sicherheitspolizei und Hilfskräfte 10 000 bis 12 000 Männer, Frauen und Kinder. Wulkau hingegen wird im Februar 1942 befördert. Es ist sein Aufstieg zum SS-Sturmscharführer. Den Rang bekommt er für seine Zugehörigkeit zum „Einsatzkommando z. b. V.“ und sein „zielbewusstes und energisches Auftreten“ bei sicherheitspolizeilichen Einsätzen.

„Aufgrund der schwachen personellen Besetzung wird nahezu jeder Funktionär bei Großaktionen wie Razzien oder Judenerschießungen eingesetzt“, hat Koppert über die historische Literatur herausgefunden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit greift Wulkau bei den Ermordungen selbst zur Waffe.

Die Oberstaatsanwaltschaft Dortmund stellt 1964 fest: „Es ist davon auszugehen, dass diejenigen, welche etwa zwei Jahre in Stanislau blieben, eigenhändig etwa 1 000 Juden getötet haben.“ Diese Staatsanwaltschaft strengt 1962 Ermittlungen gegen Wulkau an. Da er offiziell tot ist, stellt man sie ein. Das Abtauchen ist erfolgreich. Koppert: „Dank seiner Todeserklärung wurde er nie zur Verantwortung gezogen.“

In Achim untergetaucht

Nach dem Krieg lebt Wulkau als Kurt Ernst Franz Kurylak weiter. Er hat einfach seine Vornamen neu angeordnet und einen neuen Nachnamen angenommen. Während in Stuckenborstel seiner wahren Identität gedacht wird, wohnt er unbehelligt in Achim-Baden, bis er 1978 im Bremer Krankenhaus St.-Joseph-Stift stirbt. Ein ehemaliger Nachbar in Baden beschreibt ihn als jähzornigen Menschen mit wenig Kontakt zu den anderen Einwohnern. Zu seinen Söhnen seien Wulkau alias Kurylak und seine Frau sehr streng gewesen. Er soll häufig seinen Arbeitsplatz – er war den Erzählungen nach viel im Bau beschäftigt – gewechselt haben. Nein, von seiner wahren Vergangenheit habe man nichts gewusst.

„Irgendjemand wusste Bescheid“, sagt Koppert. Inwieweit Kurylak mit seiner Vergangenheit konfrontiert war, ist bislang eine der offenen Fragen. Ebenso, wie er nach Achim, in die unmittelbare Nähe seiner ersten Familie, gekommen ist und warum. Aber bereits 1980, zwei Jahre nach seinem Tod, meldet das Amtsgericht Achim Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Identität Kurylak an. Es lässt Nachforschungen anstellen, doch erst 15 Jahre später wird das zuständige Landgericht in Bremen seine Sterbeurkunde korrigieren. Über die Gründe für die falsche Identität notiert es nichts.

Zurück zum Ende

Nun stellt sich für Sottrum die Frage nach dem Umgang mit dem Stein. Für die Gemeinde steht fest: Er muss weg. Krahn betont die Einstimmigkeit der Parteien in dieser Sache, die am Montag besiegelt wird. Einen Königsweg in der Frage nach der Erinnerung an diesen Fall gibt es wohl nicht. Auch Claudia Koppert kennt ihn nicht, ist aber überzeugt: Irgendeine Reaktion muss es geben. Die Gemeinschaft müsse ihren Weg finden, sagt sie. Wichtig sei aber, dass sie überhaupt darüber spricht. Das sei auch eine stärkere Haltung, als sich vorzumachen, dass nichts gewesen ist.

Nicht nur am Montagabend im Gemeinderat, sondern auch darüber hinaus.