VON PETRA HOLTHUSEN Fischerhude – Früher konnte bei Sammanns reinkommen, wer wollte – die Haustür stand immer offen. Das hat sich mit dem 28. Dezember 2021 geändert: „Seit damals schließe ich ab. Und mache die Jalousien runter, wenn es dunkel wird“, sagt Sabine Sammann. Das Bedürfnis, sich zu schützen, ist groß. Anders als früher beäugt sie Fremde in der Nähe ihres Hauses an der alten Wümmeschleuse in Fischerhude misstrauisch, schreibt sich sogar Autokennzeichen auf: „Man ist wachsam.“ Und manchmal kriecht auch Angst hoch, „dass er wieder rauskommt“.
Er, das ist der 65 Jahre alte Mann, der am 28. Dezember 2021 Sammanns Nachbarin (73) und deren Sohn (56) erschossen hatte und den das Landgericht Verden kürzlich zu lebenslanger Haft verurteilt hat. Das dritte Opfer, eine 53 Jahre alte Verwandte der beiden Getöteten, die zufällig zu Besuch gewesen war, hatte überlebt, weil sie sich nach einem Kopfschuss tot gestellt und nach dem Verschwinden des Mörders hilfesuchend zu Sammanns hinüber geschleppt hatte. Während ihr Mann Joachim Polizei und Rettungsdienst alarmierte, leistete Sabine Sammann Erste Hilfe und rettete der schwer verletzten Frau mutmaßlich das Leben.
Der Abend, an dem sie auf ihrem Küchenfußboden die blutüberströmte fremde Frau mit einem Druckverband versorgte, beruhigte und wach hielt und an dem ein Spezialeinsatzkommando der Polizei durch ihr Haus lief, um das Nachbargebäude zu umstellen, in dem zu dem Zeitpunkt noch der bewaffnete Täter vermutet wurde, wirkt bis heute nach bei Sabine Sammann. Damals fühlte sie sich „wie im falschen Film, wie in einem Krimi“. Und „ich hasse Krimis“. Als die Frau mit bittenden Händen im Dunkeln vor ihrer Tür gestanden und sie das viele Blut gesehen habe, „habe ich das Fühlen aus- und das Hirn eingeschaltet. Ich habe einfach funktioniert und gehandelt“, erinnert sich die 50-Jährige, „das war meine Pflicht.“ Später kam der quälende Gedanke: „Er hätte auch hinterherkommen können, dann wäre ich auch tot.“ Die 53-jährige Bremerin, der sie das Leben rettete, bedankte sich später bei ihr, brachte Blumen und Pralinen. Gemeinsam mit der Tochter der getöteten Nachbarin tranken sie an deren Geburtstag im Sommer in ihrem Garten Kaffee. Die Tochter komme oft, um nach dem Rechten zu schauen, und trauere sehr um ihre Mutter, weiß Sabine Sammann aus vielen Gesprächen. Die beiden Frauen halten engen Kontakt. Nach den traumatischen Erlebnissen am Abend der Morde war Sabine Sammann, die im Altenheim an der Molkereistraße beschäftigt ist, fünf Wochen lang arbeitsunfähig: „Ich konnte nicht mehr im Dunkeln unterwegs sein und keine fremden Menschen um mich haben.“ Leer habe sie sich gefühlt. Und fassungslos: „Wie kann ein Mensch so was machen?“ Die schlimmsten Momente seien immer „dienstags am späten Nachmittag um kurz vor fünf“ gewesen, der Tatzeit am 28. Dezember 2021. Sie nahm die Hilfe einer Psychologin in Anspruch: „Sie hat einfach nur zugehört, das war sehr angenehm. Ich habe erzählt und erzählt und Rotz und Wasser geheult.“ Die Zeit und die Gespräche hätten ihr geholfen, „langsam wieder in den Alltag zu gleiten“. Als sie im Oktober ihre Zeugenaussage in dem Mordprozess vor dem Landgericht in Verden machen musste, kam alles wieder hoch: „Ich war sehr aufgeregt und habe gezittert und gestottert.“ Und wenn man dem Angeklagten so gegenüber sitze, „denkt man die ganze Zeit: du A... – warum?“ Beim Richter hatte Sabine Sammann vorab ihr Heft abgegeben, in dem sie das ganze Geschehen aus ihrer Sicht schildert: „Die 15 Seiten habe ich gleich nach der Nacht aufgeschrieben, um das alles zu verarbeiten.“ Den Rüffel des Richters, dass sie in dem Heft den Täter als Arschloch bezeichnet, wies die Fischerhuderin entschieden zurück: „Der Täter hat auch was mit uns gemacht.“ Mit Abscheu erfüllt sie bis heute der Mordhaus-Tourismus in den ersten Monaten nach der Tat. Das alte Bauernhaus ihrer getöteten Nachbarin sei zum „meistfotografierten Haus in Fischerhude“ geworden, vor dem fremde Leute für Selfies posiert hätten. So einige Neugierige, die auf dem Nachbargrundstück herumgeschnüffelt und durch die Fenster geguckt hätten, habe sie lautstark weggescheucht: „Hier gibt’s nichts zu gucken!“