Rotenburg – Eine vollständige Klärung verspricht Andreas Zumach freilich nicht – dennoch wird der Journalist im Rotenburger Rathaus einer gewichtigen Frage nachgehen: „Ein Jahr Krieg in der Ukraine – Wie kann es Frieden geben?“. Die Rotenburger Regionalgruppe der Vereinigung Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) lädt zu dem Vortragsabend in den Ratssaal ein. Los geht es am Donnerstag, 2. März, um 19 Uhr. Wir haben vorab schon mal um eine Antwort auf die Frage gebeten.
Herr Zumach, der Titel von der Vortragsveranstaltung klingt so, als hätten Sie ein Rezept für den Frieden. Wie könnte das aussehen?
Ich würde eher sagen, ich habe viele unbeantwortete Fragen. Ich maße mir überhaupt nicht an, alles zu wissen. Aber ich halte das, was mit Waffenlieferungen erreicht werden soll, für unrealistisch. Das Problem ist auch, dass das nicht klar definiert ist. Die Zugziele fangen an mit erstens: Erschöpfungspakt. Zweitens: Zurückdrängung hinter die Linien vom 24. Februar. Drittens: Eroberung des ganzen Donbas. Viertens: Rückeroberung der Krim. Fünftens: Russland dauerhaft schwächen, damit es nie mehr in der Lage ist, militärisch zu agieren. Darüber besteht ja in den westlichen Unterstützerstaaten und Regionen kein Konsens. Wie könnte der zustande kommen? Wenn zum Beispiel Kanzler Scholz sagen würde: Wir Europäer sind bereit, die Ukraine bis zu dem Punkt zu unterstützen, bis zur Zurückdrängung der russischen Angreifer hinter die Linien vom 24. Februar. Das wäre völlig legitim und eine klare Position. Stattdessen gibt es Kämpfe. Wie sehen Sie das Kräfteverhältnis? Meine Analyse ist, dass trotz aller Schwierigkeiten, die die russischen Streitkräfte haben, Russland nach wie vor militärisch stark überlegen ist. Putin kann noch Hunderttausende Menschen in diesen Krieg zwingen, was er im Rahmen von Zwangsrekrutierung auch tut. Bei bestimmten Waffentypen gibt es nach wie vor eine deutliche Überlegenheit, und die Panzerzahlen, die Selenskyj für notwendig erklärt hat, bekommt die Ukraine nicht annähernd – weder jetzt, noch im Laufe der nächsten zwölf Monate. Putin hat weiterhin die Eskalationsdominanz. Das sehen wir auf brutalste Weise mit den gezielten Zerstörungsangriffen auf zivile Infrastruktur. Und ich fürchte, er kann seiner Bevölkerung noch eine Menge mehr zumuten, was Entbehrungen und negative Auswirkungen des Krieges auf Wirtschaft angeht. Deswegen sage ich: Es müssen Verhandlungen stattfinden. Aber ich mache mir keine Illusionen, und ich sage auch nicht, dass Selenskyj kapitulieren muss. Was sind denn mögliche Szenarien für den Ausgang des Kriegs? Wir haben die Wahl zwischen zwei großen Übeln: Das eine wäre, der Krieg geht noch sehr lange weiter mit sehr viel mehr Toten und Zerstörung. Am Ende sehen Kiew und andere Städte so aus wie Grosny nach dem Zweiten Tschetschenienkrieg – und Russland gewinnt dann doch militärisch. Oder aber Putin greift, weil er sich so in die Ecke gedrängt fühlt, doch zur Atomwaffe. Und verglichen mit diesen beiden Szenarien ist eines von Waffenruhe und Verhandlungen das relativ bessere Szenario. Wenn man es auf die Frage der Waffenlieferungen reduziert, sind Sie also eher dagegen? Ich formuliere es mal so: Man muss nicht Pazifist sein, um eine große Skepsis zu haben, die auch führende Militärs geäußert haben. Skepsis, dass der Krieg für die Ukraine siegreich zu entscheiden ist. Und auch unser Kanzler legt sich nicht klar fest, wenn er sagt: Die Ukraine darf nicht verlieren, Russland darf nicht gewinnen. Was heißt das? Er legt sich nicht klar fest und ist daher der Getriebene. Sowohl innenpolitisch, teils von der eigenen Koalition, als auch außenpolitisch. Wie wahrscheinlich ist es denn, dass man Russland für ernst zu nehmende Friedensgespräche an den Verhandlungstisch bekommt? Das wird mit jedem Tag schwieriger, den sich der Krieg fortsetzt. Auch die Frage des Gesichtsverlustes, die bei solchen Konflikten wichtig ist, wird immer größer. Und zwar auf beiden Seiten: Sowohl für Putin innenpolitisch als auch Selenskyj, der vor drei Monaten gesagt hat: „Ich verhandle zwar, aber auf keinen Fall mit Putin. Der muss erst weg.“ Wie kommt der von sowas wieder runter? Damit es zu Verhandlungen zwischen den beiden Kriegsparteien kommt, muss es zunächst einmal bestimmte Signale von Washington an Moskau geben. Selenskyj müsste bereit sein, zu dem Punkt zurückzukommen, den er im März eingenommen hatte: Verzicht auf Nato-Mitgliedschaft, Neutralität, keine ausländischen Stützpunkte, aber verlässliche Sicherheitsgarantien, Krim-Konflikt für 15 Jahre einfrieren und so lange über den künftigen Status verhandeln – und Gespräche über Donbas zwischen Selenskyj und Putin. Der Verzicht auf die Nato-Mitgliedschaft wäre bedeutsam. Und dieses Signal muss Putin auch aus Washington hören. Das ist ein wichtiges Signal, das kommen muss. Letztlich hängt aber auch viel an der Krim. Es muss eine Lösung für diesen Konflikt geben, und zwar in einem einvernehmlichen Verfahren. Zum Beispiel eine neue Abstimmung, organisiert durch Uno oder OSZE. Mit der zusätzlichen Option auf dem Wahlzettel: weitestgehende Autonomie in der Ukraine. Ich habe immer gesagt, wenn es nicht eine solche Lösung gibt, dann bleibt der Krimkonflikt auf ewig ein Stachel im Fleisch zwischen Moskau und Kiew – und damit auch eine Belastung der Beziehung zwischen Russland und dem Westen. Ich wäre überhaupt nicht überrascht, wenn wir irgendwann in den nächsten Wochen oder Monaten hören, dass die Biden-Administration Putin sagt: Die Krim kannst du behalten. Wir haben hier in Rotenburg und Umgebung Gruppen, die Spenden sammeln und als humanitären Güter in die Ukraine bringen. Welche Auswirkungen hat das aus Ihrer Sicht auf die kriegsgebeutelte Bevölkerung? Ich finde das absolut wichtig, dass wir alles tun, alles an humanitären Gütern zur Verfügung zu stellen, was erforderlich ist. Das ist natürlich eine staatliche Verantwortung und eine von internationalen humanitären Organisationen. Letztere sind, so weit ich das weiß, kaum bis gar nicht tätig. Aber die Verantwortung trifft auch so jeden von uns. Das ist eine konkrete Form von Solidarität, die wir alle üben können. Das ist hochwichtig und kommt leider in der öffentlichen Debatte viel zu kurz. Da wird über neue Waffen geredet, aber das, was hier geleistet wird, was Menschen spenden und Einzelinitiativen leisten, wird auch so von den Ukrainern wahrgenommen. Man hört oft die Befürchtung, dass Menschen, die Hilfe für die Bevölkerung der Ukraine leisten, von russischer Seite als Feind wahrgenommen werden. Was ist da dran? Ob, wann und unter welchen Bedingungen wir als Land, als Kollektiv des Westens oder als einzelner Bürger von der russischen Führung als Feind wahrgenommen werden, ist überhaupt nicht in unserem Entscheidungsrahmen. Das ist der Willkür von Putin überlassen. Er hat ja schon bei Verhängung von Wirtschaftssanktionen, die ich nebenbei alle für richtig halte, gesagt, damit würde der Westen zur Kriegspartei. Dann wurde befürchtet, er sagt das, wenn die ersten schweren Waffen geliefert werden. Oder wenn Jets und Flugzeuge kommen. Das ist seine Willkür. Da haben wir überhaupt keinen Einfluss drauf. Also sollten wir uns von solchen Argumenten, dass man als Feind wahrgenommen werden könnte, überhaupt nicht abhalten lassen. Die andere Frage ist natürlich die der physischen Sicherheit der Menschen, die wir als humanitäre Helfer dort hinfahren. Das ist eine Frage, die muss man im Einzelfall immer selbst miteinander klären. Das kann aber kein Argument sein, deswegen die humanitäre Hilfe zu unterlassen. Ich wüsste aber bisher nicht, dass humanitäre Helfer aus dem Westen gezielt angegriffen worden seien.