Rotenburg – Auf der Terrasse eines Rotenburger Lokals: Ein Latte macchiato, dazu ein stilles Wasser – und Kathrin Otte ist glücklich. Jedenfalls für den Moment. Denn zu tun, sagt die 60-Jährige aus der Gemeinde Amelinghausen im Landkreis Lüneburg, gebe es hierzulande noch eine ganze Menge. Für sie selbst, die über den Wahlkreis „Rotenburg I – Heidekreis“ in den Deutschen Bundestag einziehen möchte, wie auch für „ihre“ in den aktuellen Umfragen etwas schwächelnde Linke, der sie seit Herbst 2017 angehört.
„Eigentlich wollte ich ja nie in eine Partei eintreten, habe ich mich doch außerparlamentarisch schon früher recht erfolgreich engagiert“, blickt die Direktkandidatin zurück. Warum sie ihre Meinung geändert habe? „Ausschlaggebend war für mich, dass die Landesregierung offenbar gar kein Interesse daran hatte, die Ursachen für die signifikanten Krebsraten im Kreis Rotenburg aufzuklären.“ Dabei, ist die selbstständige Personalberaterin überzeugt, stünden ausgerechnet die ja im Zusammenhang mit der regionalen Erdgasförderung. „Ich halte es nach wie vor für wahrscheinlich, dass ein für Lymphome bekannter Auslöserstoff wie Benzol bei der Gasförderung in die Luft entwichen ist.“
Spätestens jetzt dürfte es vielen beim Namen „Otte“ Klick machen: Die Linken-Politikerin, die von sich selber sagt, sie habe das Linksideologische längst schon abgelegt, ist Gründerin der Wittorfer Bürgerinitiative für Umwelt und Gesundheit, kurz WUG, wie auch des gemeinnützigen Netzwerks für Umweltkranke (Genuk). Seit 2013 trat die gelernte Tischlerin mehrfach auf Podien auf, um sich für den Gesundheitsschutz der in der Region lebenden Bürger einzusetzen – vor allem mit Blick auf umweltschädliche Einflüsse. Wer ihr Engagement dahingehend verstehen will („Ich bin ein Mensch, der sich immer fragt, was sich an der Lage ändern kann – an meiner eigenen oder an der kollektiven“), muss ihre Biografie kennen: Mit 21 Jahren erkrankte die gebürtig aus dem Auetal stammende Tochter von Obstbauern schwer: „Was ich auf der elterlichen Plantage an Pestiziden abbekommen habe, kann ich nicht nachweisen, meine schwere Metallvergiftung schon“, bezieht sie sich auf die Ursache für ihr fortwährendes Leiden. Eines, das nicht anerkannt worden sei, wie mittlerweile auch vom Robert Koch Institut (RKI) bestätigt – aber Abhilfe, kritisiert sie, gebe es für Umweltkranke noch immer nicht. „Daher musste ich mir Heilung und Bezahlung der Kosten selbst organisieren, im Zuge der Selbsthilfearbeit wurde mir dann klar, dass es eine Systematik des Wegsehens bei den Chemikaliengeschädigten ganz allgemein gibt.“ So, sagt sie, könnten Unternehmen immer noch – weitgehend ungehindert von gesundheitlichen Folgeabschätzungen – gesundheitsgefährliche Technologien und Produkte auf den Markt bringen und die Menschen dann mit den Schäden allein lassen. Eine Frage, die Otte aufwirft: „Wir haben es mit einer Milliarde Euro zu tun, die im Gesundheitsmarkt tagtäglich über den Tisch geht – wie soll sich das mit der Tatsache vertragen, dass über die Hälfte der Bevölkerung chronisch krank ist?“ Nein, die öffentliche Daseinsvorsorge, findet die Wahlkämpferin, dürfe nicht länger dem Markt überlassen werden. „In einer derart fehlgesteuerten Gesellschaft, in der dem Individuum zu viele Bürden aufgelastet werden, darf sich der Sozialstaat nicht einfach zurückziehen – er muss wieder seine Fürsorgepflicht übernehmen.“ Mit solchen Forderungen wirbt Kathrin Otte unter anderem natürlich auch auf ihren Plakaten. „Ich bin halt keine Freundin des Stellvertreterprinzips, sondern der Selbstermächtigung – eine Demokratie kann nur davon leben, dass die Menschen sich dessen bewusst werden, dass sie in einer solchen ganz viel steuern können und auch sollen.“ Heute ist sie in Rotenburg unterwegs, um im Stadtgebiet die Werbeschilder mit ihrem Konterfei aufzuhängen. Ihr treuer Begleiter: eine Trittleiter. Wahlkampferfahrung hat die Amelinghauserin übrigens schon vor vier Jahren sammeln dürfen. Damals kandidierte sie für den Landtag als Unabhängige für die Linke. Ihr Wahlkreis seinerzeit: Uelzen. Den Einzug ins Parlament schaffte sie am Ende nicht. Nun also fasst Otte, die seit 2019 im Landesvorstand der Linke mitwirkt, Berlin ins Auge. Erst im Juni war die 60-Jährige von den beiden Kreisverbänden Rotenburg und Heidekreis per Briefwahl zu deren Direktkandidatin zur Bundestagswahl gewählt worden. Warum es diese Region geworden sei? „Ich fühle mich durch meine langjährigen Aufklärungsbemühungen zum Thema Krebszahlen natürlich sehr mit den Menschen hier verbunden.“ Während Otte über viele weitere Themen plaudert, die ihr neben der Gesundheitspolitik und einer direkten Demokratie nicht weniger wichtig seien, Mobilität, Wirtschaft, Energie und Landwirtschaft etwa, leeren sich nach und nach die Plätze auf der Terrasse. Den Latte macchiato hat sie nach fast zwei Stunden noch immer kaum angerührt. Aber den kann man ja auch kalt trinken. Ja, sie redet gut – und vor allem gerne. Am Tisch nebenan zündet ein Gast sich eine Zigarette an. Otte rückt ihren Stuhl zur Seite. Den Qualm vertrage sie nämlich nicht: „Noch heute leide ich unter einer multiplen Chemikaliensensibilität – eine der Spätfolgen meiner damaligen Erkrankung, die ich übrigens erst mit 39 weitestgehend besiegt habe.“ Heute geht sie also Plakatieren – und morgen? Ihren Wahlkampf möchte sie auf den letzten Metern noch ein Stück weit intensivieren, sagt sie, mehr mit den Bürgern ins Gespräch kommen. Gerade erst war die Kandidatin dafür einen halben Tag lang in der Rotenburger Fußgängerzone anzutreffen, „ansonsten stehe ich derzeit jeden Samstag am Wahlstand in der Soltauer Marktstraße.“ Bleibt schlussendlich noch die Frage nach dem Privatmenschen Kathrin Otte. Ihr Partner, erzählt sie, sei vor vier Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. Sie sei ein Naturfreak durch und durch. Und sie lese viel – allerdings weniger Krimis. „Mit 60 wollte ich sogar selbst mal Schriftstellerin werden.“ Das Alter hat die überzeugte Linken-Politikerin mittlerweile erreicht. Und wer weiß: Vielleicht wird es mit der mal angedachten Autorinnenkarriere ja doch noch etwas – wenn es mit dem Mandat in Berlin zum Beispiel nicht klappen sollte.