Landkreis Rotenburg. Psst. Jetzt ganz leise sein. Denn einige Hotelgäste schlafen bereits. Andere verbringen beinahe den gesamten Tag am Büfett und schlagen sich den Magen voll – mit Mehlwürmern, Katzenfutter und Rührei. Die Zeit drängt: Nur noch wenige Wochen bleiben den Bewohnern der Igelstation von Merwel Otto-Link in Rotenburg, um genügend Speck für den Winterschlaf anzufuttern – dann heißt es auch für sie: „Ab ins Bett“, beziehungsweise „Rein ins Nest“.
„Die Jungtiere bleiben am längsten wach – spätestens Ende November ist es dann aber auch für sie soweit“, erklärt Otto-Link. Sie übernimmt seit einem Jahr im Landkreis Rotenburg die Hilfe für Igel in Not, berät Tierfreunde, die selbst helfen wollen, und bietet inzwischen 19 Igeln, darunter 16 Jungtieren, freie Kost und Logis für den kommenden Winter. „Sie hätten nicht überlebt. Einige waren zu dünn, andere krank oder verletzt.“
Mit seinen bis zu 8.000 Stacheln ist der Igel eigentlich optimal gegen Fressfeinde geschützt. Trotzdem zählt er zu den gefährdeten Tierarten. Das gilt auch für den Braunbrustigel, der in dieser Region am meisten verbreitet ist. „Er ist vielen Gefahren ausgesetzt, bei denen ihn nicht einmal seine Stacheln schützen – zum Beispiel Autos und Rasenmäher. Viele kommen auch beim Osterfeuer um“, bedauert Otto-Link. Früher weit verbreitet, sei der Igel inzwischen ein seltener Gast im heimischen Garten geworden. „Und weil er sich obendrein tagsüber nicht blicken lässt, bekommen wir ihn kaum mehr zu Gesicht.“ Denn erst wenn die Dämmerung hereinbricht, streift der nächtliche Jäger beinahe lautlos herum. Seine Beute sind Insekten. Ganz oben auf seiner Speisekarte stehen Käfer, Schmetterlinge und Spinnen – aber auch Würmer und vereinzelt Schnecken lässt er sich schmecken. Das reichhaltige Essen im Garten-Bistro von Otto-Link hat sich herumgesprochen. „Wir haben in der Nachbarschaft zehn freilebende Igel, die ich füttere. Ansonsten sind die auf sich alleine gestellt und kommen wunderbar zurecht.“ Für Tiere in Not hat sie ein überdachtes Freilaufgehege im Garten aufgebaut und kurzerhand das Hobbyzimmer ihres Mannes vereinnahmt – zumindest einen großen Teil davon. Der Bastler hat inzwischen nur noch eine kleine Ecke des Kellerraums für seine Computer – den Rest nehmen die Käfige ein, in denen alte Rundschauausgaben als Unterlage dienen, auf Regalen stehen Futter und Medikamente. „Mein Mann hat damit kein Problem. Im Gegenteil: Er hilft mir, wo er kann, und geht in der Aufgabe geradezu auf“, freut sich Otto-Link über die Unterstützung im eigenen Haus. Die ist bitter nötig, denn die Tiere machen viel Arbeit: Zweimal am Tag reinigt sie alle Käfige („Igel sind kleine Schweine“) und führt über jedes Tier ein detailliertes Protokoll. Jeder kleine Patient hat einen Namen: In einem Käfig hocken die beiden frechen Brüder Max und Moritz, die keinen anderen Igel dulden. In einem weiteren ist der humpelnde Heinrich, der in der Heinrich-Siegel-Straße in Ottersberg angefahren worden war und nun auf dem Weg der Besserung ist. „Meist geben die Finder ihnen den Namen – das ist besonders für Kinder wichtig“, findet Otto-Link. Damit sie die Tiere auseinander halten kann, bedient sie sich eines einfachen, aber effektiven Tricks: Sie verpasst den Igeln farbige Stachel-Strähnen mit Nagellack. Otto-Link übernimmt die Igelhilfe ehrenamtlich neben ihrem Job – sie führt einen Hundesalon. Freizeit ist Mangelware. „Vor halb zwei nachts komme ich selten ins Bett“, sagt sie. Da sie obendrein alle Kosten aus eigener Tasche trägt, freut sie sich über die große Spendenbereitschaft: „Ich bekomme vor allem Futter, Aufzuchtmilch, Handtücher und manchmal auch ein paar Euro in die Spardose.“ Damit kann sie zumindest einen Teil der Kosten decken, die beispielsweise für die medizinische Versorgung anfallen: „Ich arbeite mit Tierärztin Alice Kleine Büning zusammen – die Behandlungen hat sie mir nicht berechnet, aber die Medikamente zahle ich.“ Ob ein Igel den Winterschlaf übersteht, hänge in erster Linie von seinem Gewicht ab. „Bis Mitte Oktober sollten freilebende Igel mindestens 300 Gramm wiegen, im Idealfall sogar 500 Gramm – ansonsten haben sie keine Chance“, betont Otto-Link. Doch an dem erforderlichen Gardemaß scheitern viele Igel, denn die Tafel in der freien Natur ist bei weitem nicht mehr so üppig gedeckt wie früher: „Es gibt weniger Insekten. Das hat verschiedene Ursachen: Es werden beispielsweise Gifte versprüht und die Gärten insgesamt immer steriler. Dazu werden viele exotische Arten gepflanzt.“ Wie dramatisch die Entwicklung ist, bestätigen aktuelle Zahlen des Umweltministeriums: Danach gibt es etwa 80 Prozent weniger Insekten als noch vor 35 Jahren. Das spüren nicht nur Insektenfresser wie der Igel oder Singvögel, die bei ihrer Jagd oft leer ausgehen – die Folgen sieht jeder Autofahrer: Selbst wer weite Strecken auf Landstraßen und Autobahnen zurücklegt, findet anschließend kaum Insekten auf der Windschutzscheibe und an den Scheinwerfern – früher war das anders. Umso wichtiger sei es deshalb, freilebende Igel zu füttern, appelliert Otto-Link: Sie empfiehlt feuchtes Katzenfutter ohne Soße oder Gelee, ungewürztes Rührei, das gerne schön glibberig sein darf, und dazu ausreichend Wasser. Ungeeignet sei dagegen Milch, weil Igel keine Lactose vertragen. Auch mit Obst könne der Igel als bekennender Fleischfresser nichts anfangen. „Er geht nur an Fallobst, um sich dort Würmer zu holen“, klärt Otto-Link ein häufiges Missverständnis. Wer verhindern will, mit dem Futter wildlebende Katzen anzulocken, dem empfiehlt sie ein Igelhaus mit Labyrinth-Eingang. „Im Internet gibt es Bauanleitungen dafür – oft reicht aber schon ein umgedrehter Wäschekorb, in den man eine kleine Öffnung als Eingang schneidet.“ Selbst wenn der Igel genug Nahrung findet, steht er jedoch oft vor dem nächsten Problem: Viele Menschen befreien ihren Garten von sämtlichem Laub und gehen sogar mit dem Laubbläser durch alle Beete. „Igeln fällt es deshalb schwer, das nötige Material für den Nestbau zu finden. Besser ist es, das Laub einfach liegen zu lassen oder es zu einem Haufen zusammen zu fegen und diesen mit etwas Reisig zu unterfüttern.“ Wer einen Laubhaufen beseitigen will, sollte zudem unbedingt vorsichtig zu Werke gehen – darin könnte ein Nest sein. „Der beste Monat dafür ist der Juni. Dann sind die Igel unterwegs.“ Hobbygärtner, die ein Nest bewusst zerstören, machen sich sogar strafbar: „Das regelt Paragraf 42 des Bundesnaturschutzgesetzes – bis zu 50.000 Euro sind dann fällig“, so die Tierschützerin, die regelmäßig Igel in Not aufnimmt. Aber woran erkennt ein Laie, dass der Igel auf Hilfe angewiesen ist? Otto-Link: „Wenn der Igel im Nacken eine deutliche Delle hat, diese wird Hungerfalte genannt, spricht dies dafür, dass er zu mager ist. Häufig sind Igel voller Zecken und anderem Ungeziefer, die entfernt werden sollten. Dabei bin ich behilflich.“ Wer einen Igel, der eigentlich nur nachts aktiv ist, tagsüber antrifft, sollte sich das Tier in jedem Fall genauer anschauen, rät die Expertin: „Dann stimmt etwas nicht mit ihm. Igel suchen in Notzeiten regelrecht die Hilfe des Menschen – ausgenommen sind Jungtiere, die unerfahren sind und auch schon mal tagsüber die Welt erobern wollen.“ Der Igelnachwuchs kommt Anfang August zur Welt und verbringt den ersten Winter oft zusammen mit den vier bis sechs Geschwistern in einem Nest. Die Igelmutter verlässt das bereits einen Monat nach der Geburt. Sie erholt sich bis dahin von den Strapazen der Geburt, zeigt den Igelkindern alles, was sie wissen müssen, und bereitet sich danach auf den Winterschlaf vor, den sie Ende Oktober antritt. Zu diesem Zeitpunkt schlummern männliche Igel bereits. Während des Winterschlafs verlangsamt sich der Herzschlag von 200 auf etwa zehn Schläge pro Minute, die Atemfrequenz von 50 auf 13 und die Körpertemperatur sinkt von 36 Grad Celius auf etwa fünf Grad. Im Frühling, wenn die Temperatur konstant über zehn Grad klettert, werden Igel wieder munter. Das gilt hoffentlich auch für alle 19 Hausgäste von Merwel Otto-Link, denn die wildert ihre stacheligen Lieblinge im Frühling natürlich wieder aus. Und wer weiß, vielleicht streift ein Igel mit farbiger Stachel-Strähne dann durch den Garten eines Runschau-Lesers. • Merwel Otto-Link betreibt mit Hannelore Ziemer aus Hamburg die Facebook-Gruppe „Igelfreunde und die, die es werden wollen“ mit mehr als 1.900 Mitgliedern. Dort geben sich die Nutzer gegenseitig Tipps. Otto-Link ist zudem telefonisch unter 04261/846464 erreichbar. In Notfällen außerdem auf dem Handy unter 0152/22846488.