Rotenburg. Haben Mitarbeiter der ehemaligen Rotenburger Anstalten in den 1950er- bis 1970er-Jahren im Auftrag der Pharmaindustrie Kindern und Jugendlichen zu Testzwecken systematisch Psychopharmaka und Neuroleptika verabreicht? Um diesem furchtbaren Verdacht nachzugehen, haben die Rotenburger Werke ein wissenschaftliches Forschungsteam beauftragt. Die Experten gehen ab November im Archiv auf Spurensuche und sprechen mit ehemaligen Bewohnern und Mitarbeitern. „Was in der Vergangenheit passiert ist, beschämt uns“, sagte Vorstandsvorsitzende Jutta Wendland-Park in einem Pressegespräch am Donnerstag.
Bei den Untersuchungen, die im Sommer 2017 abgeschlossen sein sollen, geht es nicht um die Frage, ob Medikamentenversuche an Kindern und Jugendlichen in den Rotenburger Anstalten begangenen wurden, denn daran besteht kein Zweifel. Es geht um das Ausmaß – und das soll verherrend sein: „Wir können bereits sagen, dass es viele Opfer gibt“, sagte Wendland-Park. Sie hat in den vergangenen Wochen Gespräche mit verschiedenen ehemaligen Bewohnern geführt.
Ihre Stimme zittert leicht, als sie von den Begegnungen erzählt: „Der christliche Anspruch und die Wirklichkeit klafften damals weit auseinander. Ich entschuldige mich bei allen Bewohnern für das Leid und das Unrecht, das ihnen angetan wurde. Wir wollenn allen Bewohnern der ehemaligen Rotenburger Anstalten helfen, ihre berechtigten Ansprüche bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe geltend zu machen.“ Wieviele Opfer es gibt, sei noch nicht bekannt: „Wir stehen noch ganz am Anfang – aber es sind viele.“ Ehemalige Heimkinder hatten bereits mehrfach berichtet, Opfer von Gewalt, sexuellem Missbrauch und systematischen Medikamententests geworden zu sein. Diese sollen von pharmazeutischen Unternehmen in Auftrag gegeben und von Mitarbeitern durchgeführt worden sein. „Kinder und Jugendliche erhielten versuchsweise zahlreiche Psychopharmaka und Neuroleptika. Die Medikamente wurden in zu hohen Dosen verabreicht“, erklärte Wendland-Park. Es ist nicht das erste Mal, dass die Rotenburger Werke sich mit der düsteren Vergangenheit der Rotenburger Anstalten auseinandersetzt. Als Ergebnisse sind die Publikationen „Zuflucht unter dem Schatten deiner Flügel?“ (1992), das Buch „Geschichte und Geschichten aus den Rotenburger Werken“ (2011), sowie die Dokumentation der Fachtagung „Gewaltsysteme und Systemgewalten“ (2013) entstanden. Bekannt ist bereits, dass 547ehemalige Bewohner der Rotenburger Anstalten in der Nazizeit in Lager deportiert und dort umgebracht worden sind. Aber warum beginnen die Rotenburger Werke ausgerechnet jetzt erneut damit, die Geschichte aufzuarbeiten? Das erklärte Wendland-Park so: „Wir haben gemerkt, dass es noch viele offene Fragen gibt, die wir beantwortet haben wollen. Jetzt ist der richtige Moment, weil es noch Zeitzeugen gibt, die uns helfen können.“ Nach einem ersten Aufruf auf der Homepage der Rotenburger Werke hatten sich bereits sechs Zeitzeugen gemeldet: Darunter ein ehemaliges Heimkind, das Ende der 1960-er bis Anfang der 1970-er in den Rotenburger Anstalten gelebt hatte und damals zwischen fünf und zehn Jahre alt gewesen sein soll. „Seine Schilderungen deuten auf Dimensionen hin, die uns nicht bekannt waren“, so Wendland-Park. Alle Aussagen wird das Forschungsteam bei seiner Arbeit berücksichtigen. Es besteht aus Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld), Dr. Ulrike Winkler (Trier) und Dr. Karsten Wilke (Bielefeld). Wilke wird den Hauptteil der Arbeit übernehmen und dafür unter anderem die Recherchetätigkeit in den Archiven der Rotenburger Werke leisten. Dabei unterstützt ihn Doktorandin Sylvia Wagner, die für ihre Dissertation bereits zahlreiche Akten im Archiv gewälzt hat: „Die Aufzeichnungen sind lückenlos. Das ist leider nicht immer so.“ Das erleichtert die Arbeit des Forschungsteams, bewahrt aber nicht vor weiteren Hürden: „Es spricht einiges dafür, dass nicht alles in den Akten vermerkt wurde.“ Umso wichtiger seien deshalb die Aussagen von weiteren Opfern und ehemaligen Mitarbeitern. Diese werden gebeten, sich zu melden. • Rotenburger Werke, Lindenstraße 14, 27356 Rotenburg. Telefon: 04261/920482. E-Mail: info@rotenburgerwerke.de.