Rotenburg/Bischofsburg. Fast auf den Tag genau vor 75 Jahren, im Januar 1945, flüchtete Ulrich Radloff, damals 14 Jahre alt, mit seiner Familie aus Bischofsburg in Ostpreußen nach Rotenburg. Die Geschehnisse von damals gehen dem 89-Jährigen bis heute nicht aus dem Kopf. Die Rundschau besuchte den Malermeister, der sich mit Ehefrau Edeltraud (87) an der Wümme heimisch fühlt.
„Ein Kradmelder der Wehrmacht tauchte bei uns auf und erklärte, dass die Lage sehr angespannt ist und wir flüchten sollten“, berichtet Radloff. Am Morgen der Flucht spürte er, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag. Es war hektisch, denn viel Zeit blieb der Familie nicht. „Feindliche Kampfflugzeuge flogen über unseren Ort und bombardierten vor allem die Wege“, erinnert sich Radloff.
Gegen Mittag kam seine Tante Else vorbei, die ebenfalls auf der Flucht war. Sie hatte ihr Auto voll beladen und wollte, dass die Familie sich beeilt und am Abend ebenfalls die Flucht antritt. „Meine Mutter war sich unsicher, denn mein Vater war zu dieser Zeit noch auf Geschäftsreise in Berlin. Meine Tante machte ihr Druck und sagte ihr, dass sie selbst nicht eher fliehen würde, ehe meine Mutter ihr nicht versprechen würde, noch an diesem Tag loszufahren. Also gab sie nach.“ Der Winter hatte die Region fest im Griff. Das Thermometer zeigte minus 20 Grad Celsius. Um ein wenig Schutz vor dem Schneegestöber zu haben, spannte die Familie einen großen Teppich über den offenen Lastwagen. „Das Fahrzeug hatte Doppelbereifung mit Schneeketten. Das waren gute Voraussetzungen für uns, um damit weit zu kommen“, erinnert sich Radloff. Der Platz war knapp und so blieben alle Möbel zurück. „Wir haben nur Bettzeug und Kleidung eingepackt. Doch bevor wir unsere Flucht antreten konnten, mussten wir ein Problem lösen: Wir hatten nicht genug Benzin“, erinnert sich Radloff. Hilfe gab es an der Tankstelle im Ort: „Die Pächterin half uns aus, und als Gegenleistung nehmen wir sie und ihre Tochter mit. Auch eine weitere Familie schloss sich uns an. Das war Glück für uns, denn der Mann konnte den Lastwagen fahren. Meine Mutter war viel zu nervös und zu unerfahren.“ Am Ortsausgang wurde die Fahrt zum ersten Mal gestoppt: „Es war unser dickbäuchiger Bürgermeister und seine Parteigenossen. Mein Vater war zwar nicht in der Partei, aber er hatte ihm oft unsere Dockart-Kutsche mit unserem Pferd Max ausgeliehen. Vermutlich ließ es uns deshalb unsere Fahrt ungehindert fortsetzen.“ Sie führte über Mehlsack weiter in Richtung Braunsberg und über die damals neue Autobahn nach Elbing. „Auf einer Brücke, die über die Weichsel führte, kontrollierte uns die Wehrmacht. Da wir viele Kinder dabei hatten, durften wir schnell weiterfahren.“ Es war eine Fahrt ins Ungewisse. „Zwischen Stargard und Schlochau hörte ich den Donner von Kanonenschüssen. Da wussten wir, dass das russische Militär nicht mehr weit entfernt war.“ Als die Fliehenden die Kleinstadt Deutsch Krone erreichten, war die Aufregung auf den Straßen dort gerade groß. „Mit dem Volkssturm sollte die zweite Abwehrfront aufgebaut werden. Wir konnten nicht dortbleiben, weil es zu gefährlich war. Es ging also weiter, immer entlang der heutigen Bundesstraße 22.“ Langsam ging das Benzin zu Ende. „Die Tankstellenpächterin hatte uns zu wenig eingefüllt, weil sie wohl Angst davor hatte, zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn sie eines Tages zurück in ihre Heimat kommen sollte. Wir fuhren, soweit uns der Tank brachte. Dann stellten wir die Wagen auf einem abgesicherten Bauernhof ab und verbrachten die Nacht in einem Auffanglager für Flüchtlinge in Seelow.“ Ziel war Berlin, wo Verwandte wohnten. Weil es keine Zugverbindung gab, ging es ab dann zu Fuß weiter. „Es war ein eisiger Wind, und wir konnten nur oben auf dem Damm laufen. Wir kamen dort nur sehr langsam voran. Eine Frau stellte uns ein Schlafzimmer zur Verfügung. Wir haben alle himmlisch dort geschlafen“, berichtet Radloff. In Berlin angekommen, kam die Familie bei einem Onkel unter. Die Luftangriffe nahmen in den Folgetagen jedoch immer mehr zu, immer häufiger musste der Luftschutzkeller ein trügerisches Gefühl von Sicherheit geben. Im Nachbarhaus schlug eines Nachts eine Bombe ein. „Auch unsere Wohnung war danach stark beschädigt. Bei jedem Luftangriff rannten wir Kinder mit viel Angst im Bauch dicht an den Hausmauern entlang in den Keller. Wir hörten dann meist auch die Schüsse der Luftabwehr. Weil die Bombenangriffe immer schlimmer wurden, beschlossen meine Eltern, mein Vater war inzwischen zu uns gestoßen, dass meine Mutter und wir Kinder uns ins Landesinnere evakuieren lassen.“ Als die Familie mit dem Zug von Berlin nach Stendal reisen wollte, ertönte ein Fliegeralarm. Der Zug fuhr einige Kilometer aus dem Bahnhof und blieb dort stehen. Alle Lichter erloschen. „Es war völlig finster. Dann hörten wir die ersten Flieger brummen, und wenig später fielen die ersten Bomben auf den Bahnhof, in dem wir kurz zuvor noch gestanden hatten.“ Als der Angriff vorbei war, setzte der Zug seine Fahrt in Richtung Hannover fort, und dann weiter über Verden nach Rotenburg, dem Evakuierungsziel. Die Flüchtlinge kamen zunächst in den Räumen der Volkshochschule an der Stadtkirche unter. „Danach teilte man uns das Schloss Gothard von Familie von Richthofen zu, wo wir ein Zimmer im Turm bekamen“, berichtet Radloff. Sein Vater hatte sich auf dem Weg gemacht, um die Autos zu holen. Doch in Celle stoppten ihn Soldaten der Waffen-SS und wollten die Fahrzeuge beschlagnahmen. Damit hätte die Familie ihr letztes Hab und Gut verloren. Der Vater, der ein cleverer Geschäftsmann war, bewies sein Verhandlungsgeschick und bat darum, zumindest bis nach Soltau fahren zu dürfen. „Sie waren damit einverstanden, drohten aber, ihn zu erschießen, wenn er sich nicht an die Abmachung halten und die Wagen dort abstellen würde.“ In Rotenburg fühlte sich die Familie zunächst sicherer und bemühte sich darum, ein neues Leben aufzubauen. Bruder Jürgen setzte seine Lehre bei der Fleischerei Stelling fort. Als die Kampffront jedoch unterhalb von Hannover lag, bekam er einen Einberufungsbefehl und sollte sich in Verden melden. „Aber mein Vater blieb stur und untersagte es ihm, trotz aller Zwänge setzte er sich damit durch“, sagt Ulrich Radloff. Das britische Militär rückte inzwischen immer weiter vor, und die Angriffe feindlicher Jagdbomber wurden aggressiver. „Alles, was sich am Erdboden bewegte, nahmen sie unter Beschuss. Wir hörten Bomben herabrauschen und um uns herum einschlagen. Also rannten wir immer wieder panisch nach unten, um uns in Sicherheit zu bringen. Einmal bemerkte meine Mutter, dass sie unseren Wertkoffer vergessen hatte. Ich wusste, wie wichtig er ihr war und rannte so schnell ich konnte noch einmal nach oben. Danach versteckte ich mich im nahegelegenen Wald, wo die Wehrmacht eine Panzerabwehrkanone aufgebaut hatte. Mit vielen anderen Menschen verkroch ich mich im Schützengraben, bis Ruhe eingekehrt war.“ Einige Tage später besetzten britische Soldaten die Stadt. „Wir mussten unsere Wohnung für sie räumen und bekamen stattdessen eine Schlafstelle im Kuhstall zugewiesen. Am nächsten Tag meldeten wir uns beim Einwohnermeldeamt als Neubürger an und bekamen bald darauf eine Wohnung“, so Radloff. Als die Ausgangssperre aufgehoben war, reiste sein Vater nach Soltau, um dort nach den beschlagnahmten Autos zu schauen. „Übrig geblieben waren aber nur geplünderte Gerippe.“ Als Ersatz diente ein alter Lastwagen der Wehrmacht, der für Holzgas-Betrieb umgebaut wurde, weil Benzin zu teuer war. Vater Alfred eröffnete einen Viehhandel und verdiente damit genug Geld, um den Bau eines Hauses an der Harburger Straße in Auftrag zu geben. „Die verbauten Ziegelsteine stammten von den zerbombten Resten Hamburger Stadthäuser. Ich hatte zwischenzeitlich eine Malerlehre begonnen, also erledigte ich die anfallenden Arbeiten im Neubau“, erzählt Ulrich Radloff. Seine Familie hatte Glück: Alle Brüder, die an der Front waren, kehrten nach und nach zurück, waren zwar zum Teil verletzt, aber am Leben. „Unsere Flucht endete mit einem gelungenen Neuaufbau, denn wir wurden wohl von Gott beschützt und sahen uns alle wieder“, sagt Radloff.