VON HOLGER HEITMANN

Worte für Gefühle und Körperteile

Anika Neubauer (l.), Klaudia Kisselt, Katja Mevenkamp und Angela Hesse mit einer Zeichnung, auf der Kinder mit roten Magneten zeigen können, an welchen Stellen ihres Körpers sie nicht angefasst werden möchten.  ©HOLGER HEITMANN

Auch wenn es aktuell eine kleine anti-aufklärerische Gegenbewegung zu geben scheint: Sexualisierte Gewalt ist kein Tabuthema mehr wie vor drei Jahrzehnten, als die Wildwasser-Beratungsstelle gegründet wurde. Die gehört seit 2004 zum Diakonischen Werk des evangelisch-lutherischen Kirchenkreises. Die drei Wildwasser-Expertinnen leisten Präventionsarbeit und beraten Betroffene. Nach wie vor wird ihnen im Altkreis Rotenburg Jahr für Jahr eine dreistellige Anzahl an Fällen bekannt.

Wildwasser kann aufwühlen, mitreißen, Steine umdrehen. Der Begriff steht bundesweit für Institutionen, die beim Thema sexualisierter Gewalt greifen und eingreifen, sowohl in der Prävention als auch, wenn etwas passiert ist. Die Mitarbeiterinnen des Rotenburger Wildwassers wissen gar nicht so genau, wie der Titel mit ihrer Institution in Verbindung kam, dafür gibt es ihn zu lange, sie können sich aber gut mit ihm identifizieren.

Denn Fälle von sexualisierter Gewalt wollen sie aus der Tiefe an die Oberfläche holen. Mit 166 Einzelfällen hatten Anika Neubauer, Katja Mevenkamp und Klaudia Kisselt in den ersten elf Monaten dieses Jahres zu tun, 2023 waren es insgesamt 113. Mevenkamp weist darauf hin, dass das nicht unbedingt heißt, dass es 2024 im Altkreis Rotenburg mehr sexualisierte Gewalt gab als im Vorjahr. Die eigene Öffentlichkeitsarbeit sei auch besser geworden, sodass mehr Betroffene, Angehörige, aber auch Kräfte aus Kitas und Schulen wussten, dass sie sich an Wildwasser wenden können.

Kisselt ergänzt, es könne mal sein, dass in Wirklichkeit gar nichts Schlimmes geschehen sei, „es gibt Fälle mit Fragezeichen.“ Allerdings dürften die wahren Fälle, die im Verborgenen bleiben, deutlich mehr sein, die Dunkelziffer ist nach wie vor mit Tabus und Unwissen behafteten Themen wie sexualisierter Gewalt bekanntlich hoch. Es gebe noch eine Hemmschwelle, aber immerhin, immer mehr Menschen, auch Betroffene, seien gewillt, über ihren Schatten zu springen und darüber zu reden.

In den frühen 1990er Jahren sind laut Angela Hesse vom Diakonischen Werk auf dem Land noch Sätze wie „Bi uns gifft ‘t so wat nich“ gefallen. Doch sexualisierte Gewalt wurde nur nicht unbedingt thematisiert, geschweige denn sanktioniert. Vergewaltigung in der Ehe etwa kam erst 1997 in den Paragrafen 177 im Strafgesetzbuch.

Es gab aber vor 30 Jahren auch schon „eine engagierte Frauenbewegung“, so Hesse, schon damals seien viele Kirchenfrauen dabei gewesen, und so ist es kein Zufall, dass Wildwasser in Rotenburg vor 20 Jahren beim evangelisch-lutherischen Kirchenkreis angedockt wurde. Es sei darum gegangen, den Verein zu professionalisieren, um Fördergelder aus Landesmitteln zu akquirieren und weil die Arbeit ehrenamtlich nicht zu schaffen gewesen sei, erinnert sich Hesse, das Personal sei damals aber geblieben.

In den vergangenen 20 Jahren gab es freilich Fluktuation, die derzeitige Dienstälteste ist seit vier Jahren dabei. Mevenkamp, Kisselt und Neubauer arbeiten auf eineinhalb Stellen. Sie kommen aus Psychologie und der Pädagogik und absolvierten Zusatzausbildungen. Tätig sind sie im Landkreis-Auftrag, der alle sechs Jahre ausgeschrieben wird, sodass Wildwasser regelmäßig Konzepte vorlegen und „zittern“ muss.

Die Expertinnen schulen Menschen, die in Kitas, Schulen und Sportvereinen aktiv sind. Die Präventionsangebote sind für 2025 bereits ausgebucht. Für Kitas ist es vorgeschrieben, ein Schutzkonzept zu haben, für Schulen werde das wohl auch bald gelten. Die Wildwasser-Mitarbeiterinnen stellen zum Beispiel Spiele und Bücher wie „Mein Körper gehört mir“ vor, mit denen Kindern das Thema nahe gebracht wird.

Für Lehr- und Kitakräfte sei auch der Umgang mit Eltern wichtig, von denen manche Ängste haben nach dem Motto: „Mein Kind wird sexualisiert.“ Dabei gehe es nicht darum, Kindern zu zeigen wie Geschlechtsverkehr geht, sondern darum, dass Kinder Körperteile benennen und Gefühle ausdrücken können. Für Kinder sei der Begriff Penis erst mal nicht schambehafteter als Bauch oder Bein.

„Aufgeklärte Kinder sind die sichersten Kinder“, heißt es aus der Wildwasser-Runde. Dann könnten sie ein Bauchgefühl in Worte fassen. Sexualkunde-Unterricht für Viertklässler käme eher zu spät, denn viele von sexualisierter Gewalt Betroffene seien jünger. Wenn Sexualkunde-Unterricht abgeschafft wird, wie es in den USA geplant wird, sei das gefährlich. Auch unter Kindern gebe es sexualisierte Gewalt, wobei die Wildwasser-Mitarbeiterinnen dann nicht von Tätern reden. Denn Kinder gingen nicht manipulativ wie Erwachsene vor, aber aus gewöhnlichen „Doktorspielen“ könne übergriffiges Verhalten werden, gerade von älteren gegenüber jüngeren Kindern. Zwei Drittel der Fälle von Wildwasser betreffen unter 14-Jährige.

Die jüngste Klientin mit eigenem Beratungswunsch sei im vergangenen Jahr zehn Jahre alt gewesen. Betroffene würden nur beraten, wenn sie das wollen. „Zwang bringt keinem was, es geht ja gerade um Selbstbestimmung.“ Auch erwachsene Betroffene würden zum Beispiel bei der Frage, ob oder wann sie eine Anzeige erstatten, in keine Richtung gedrängt. „Wir beraten immer im Sinne des Einzelnen“, so die Antwort auf die Frage, ob Anzeigen nicht wünschenswert seien. Zudem kritisieren die Wildwasser-Vertreterin, dass es vor Gericht oft betroffenenfeindlich ablaufe, etwa wenn Angeklagte live zuhören dürfen, während Opfer, meist junge Frauen, aussagten.

Zur analogen sexualisierten Gewalt komme die digitale, etwa wenn Betroffene unverlangt Fotos geschickt bekommen. Diese Erfahrung mache auch das Wildwasser-Team, wobei analoge und digitale sexualisierte Gewalt oft miteinander einhergingen. Wenn Jugendliche selbst auf Verlangen Nacktbilder verschickt hätten, mit denen sie im Anschluss gemobbt werden, sollten Eltern nicht mit Strafen oder Sätzen wie „Wie doof bist du denn“ reagieren, sondern mit Hilfe und Gesprächen.

Betroffene bräuchten ein starkes Umfeld, daher würden auch Angehörige beraten. Eine Mutter, die ihren Mann verdächtigt, sich an den Kindern vergriffen zu haben, sei oft selbst in der Krise, vor allem, falls dabei schlimme Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit hochkämen. Me-too-Bewegung und Paragraf 177 hin oder her, es gebe heute noch Männer, die meinen, ihre Ehefrau sei ihnen zu Sex verpflichtet, und Frauen, die unsicher sind, ob ihre Ehemänner damit recht haben.