Erpressung: Freispruch für 23-Jährige - VON ANDREAS SCHULTZ

Entführt bei Nacht

Ein Stapel Gerichtsakten: Viele Dokumente drehen sich um den 26. Oktober 2021 im Leben einer 23-Jährigen. Der Vorwurf: versuchte räuberische Erpressung.
 ©Schultz

Rotenburg – Eine Entführung, eine Erpressung, eine Verfolgungsjagd mit der Polizei quer durch den Landkreis, ein Unfall, ein türmender Verursacher und letztlich eine Verhaftung: Das ist die Geschichte hinter der Verhandlung, die das Gericht aus diversen Zeugenaussagen rekonstruiert hat: Eine 23-Jährige hatte sich am Dienstag vor dem Rotenburger Schöffengericht für den Vorwurf der versuchten räuberischen Erpressung verantworten müssen.

Sechs Stunden nahm die Verhandlung in Anspruch. Neben der Angeklagten kamen sechs Zeugen zu Wort, am Ende stand der Freispruch. Denn, so stellte es Pflichtverteidiger Thomas Lasthaus in seinem Plädoyer fest: „Meine Mandantin ist nicht Täterin, sondern Opfer“. Die Anklage war vom Gegenteil ausgegangen: Der ehemaligen Bewohnerin der Samtgemeinde Bothel war vorgeworfen worden, dass sie in Zusammenarbeit mit einem Komplizen Geld von ihrer Mutter erpressen wollte. Der Mann, selbst derzeit Insasse einer Justizvollzugsanstalt, sagte nicht vor Gericht aus. Die Anklageerhebung ging auf eine der insgesamt drei Aussagen zurück, welche die 23-Jährige nach den Geschehnissen getätigt hatte.

Der Tathergang, von dem die Frau das Gericht überzeugen konnte, war in etwa dieser: In der Nacht zum 26. Oktober bekommt die 22-Jährige per Telefon eine Warnung. Ihr Bekannter möchte sie zeitnah aufsuchen. Der Mann und die inzwischen Freigesprochene kennen sich seit neun Jahren, die schwer definierbare Beziehung der beiden ist in jüngster Vergangenheit vor allem vom gemeinsamen Drogenkauf in einem Verdener Netzwerk geprägt. Der Mann sei aggressiv, lautet die Warnung. Entsprechend lautet die Chat-Nachricht der 22-Jährigen an Freunde: „Wenn ich mich in einer halben Stunde nicht melde, ruft die Polizei“.

Als die junge Frau ihre Wohnung in einem Dorf in der Samtgemeinde Bothel verlässt, um eine Zigarette zu rauchen, steht der Mann bereits vor der Haustür. Mit vorgehaltener Waffe – der Bekannte hat sowohl eine Schreckschusspistole als auch ein abgesägtes Repetiergewehr dabei – zwingt er seine Gesprächspartnerin dazu, ins Auto einzusteigen. Ihr nächstes Ziel: die Wohnung ihrer Mutter. Dort angekommen, soll die Entführte ihre Verwandte anrufen. Mit Angst in der Stimme, so erinnert sich die Mutter vor Gericht, überbringt die Tochter die Nachricht, sie solle Bares zahlen. 15 000 Euro sind im Gespräch. „Geld gegen Tochter“, sagt der Mann in das Telefon, das im Freisprechmodus läuft.

Die Mutter gibt vor, einen Geldautomaten aufsuchen zu müssen und handelt eine Stunde Zeit bis zur Übergabe aus. Als sie sieht, wie die Tochter den Mann mit seinem Wagen in eine Sackgasse lotst, sprintet die Mutter zu ihrem eigenen Auto. Der Mitsubishi des Bekannten muss auf dem Rückweg noch einmal an dem Haus vorbei. Die Mutter verfolgt beide unbemerkt, um das Nummernschild in Erfahrung zu bringen und die Polizei zu verständigen.

Der Mann fährt nach Rotenburg, hält dort an der Ärztekreuzung. Die Polizei ist inzwischen aufgrund der Beschreibung der Mutter auf seinen Wagen aufmerksam geworden. Ein Streifenwagen hält hinter dem Mitsubishi, eine Zivilstreife davor. Als Beamten aussteigen und sich auf den Wagen zubewegen, drückt der Mann das Gaspedal durch. Einer der Beamten sagt später als Zeuge aus, bei der Flucht durch die Stadt Richtung B75 habe der Fahrer 80 bis 90 Stundenkilometer auf dem Tacho gehabt, auf der Bundesstraße bis zu 180. Die Flucht führt bis nach Westerholz, dort verlieren die Beamten den Wagen aus den Augen. Bei Abbendorf wird eine weitere Polizeistreife auf ihn aufmerksam. Kurz nachdem sie die Verfolgung aufgenommen hat, fährt sie in das Trümmerfeld eines Verkehrsunfalls. Offenbar raste der Mann auf einen Skoda, das lassen Aufnahmen beider beschädigter Unfallfahrzeuge erahnen. Der Skoda wiederum wurde auf ein Pedelec samt Fahrerin gedrückt. Letztere zog sich etliche Brüche bei der Kollision zu. Dass niemand zu Tode kam, grenzt an ein Wunder.

Der Mann flüchtet zu Fuß, lässt sich wenig später bei einer nahegelegenen Autobahnraststätte in einem von der Polizei umstellten Restaurant verhaften. Blutproben zeigen unter anderem den Einfluss von Kokain. Die 22-Jährige liegt derweil bewusstlos im Unfallwagen.

Sie landet im Rotenburger Krankenhaus. Bei der dortigen Vernehmung schildert die Frau die Bedrohungen und Beleidigungen des Mannes. Wie er mit der Waffe herumgefuchtelt hat und auch der Familie drohte.

Ihr Fehler: Tage später geht sie wieder zur Polizei, belastet sich selbst, sagt, die Erpressung wäre eine gemeinsame Idee gewesen. Vor Gericht äußerte die inzwischen 23-Jährige, zu dem Zeitpunkt wollte sie ihren Entführer wieder aus der Haft rausbekommen. Sie sei drogenabhängig gewesen und beim gemeinsamen Lieferanten habe er Schulden. Dieser habe ihr zu Verstehen gegeben: Entweder er kommt frei und bezahlt, oder sie steht für seine Verbindlichkeiten ein. Dass die Falschaussage ein Fehler war, erkennt sie – eine Woche später besinnt sie sich auf einer Polizeiwache auf die erste Version der Geschichte zurück.

Pflichtverteidiger, Staatsanwaltschaft und das Gericht sind sich einig, dass der Frau trotz offener Fragen die Erpressung nicht nachgewiesen werden kann. „Es gab keine Möglichkeit, ohne Zweifel davon auszugehen, dass es sich um einen gemeinschaftlichen Erpressungsversuch handelt“, sagte der vorsitzende Richter in seiner Urteilsbegründung. „Halten Sie sich vor diesen Menschen fern“, lautete sein Rat an die Frau. Nun bleibt abzuwarten, ob die Staatsanwaltschaft wegen der Falschaussage Anklage erhebt.

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