Landkreis Rotenburg. Der Schutz von Bewohnern in Senioren- und Pflegeheimen vor einer Coronavirus-Infektion wird in der Politik viel diskutiert. „Das ist sehr wichtig, nur leider kommen dabei Einrichtungen für Menschen mit Behinderung viel zu kurz – es gibt für uns noch viele offene Fragen und Unsicherheiten“, kritisiert Hans-Joachim Hopfe, Bereichsleitung Wohnen und Offene Hilfen bei der Lebenshilfe Rotenburg-Verden. Die Rundschau hat mit Bewohnern und Mitarbeitern des Wohnhauses Upp‘n Kopp über die aktuelle Situation gesprochen.
Insgesamt 31 Menschen mit Behinderung leben dort, 15 davon in einer Seniorengruppe. Und besonders um die Gesundheit dieser Bewohner sorgt sich Hopfe. „Sie sind zum Teil über 80 Jahre alt – bis heute wissen wir aber nicht, wann sie geimpft werden sollen. Stand jetzt wird das sobald nicht passieren, denn alle Bewohner unserer Einrichtung zählen automatisch zur Kategorie zwei. Das halte ich für falsch, denn sie sind genauso betroffen und leben mit demselben erhöhten Risiko wie die Menschen in Alten- und Seniorenheimen. Diese Ungleichbehandlung ist ein Manko, das ich sehr kritisch sehe. Wir haben bisher keinerlei Informationen, wie es für uns weitergehen soll.“
Für die Bewohner des Hauses Upp‘n Kopp ist es eine schwere Zeit, erklärt Hopfe: „Ihre Kontakte sind sehr stark eingeschränkt und wir müssen streng auf die Einhaltung der Hygienemaßnahmen achten. Für einige Bewohner ist es jedoch schwer zu verstehen, warum sie beispielsweise eine Maske tragen müssen – sie nehmen diese als Fremdkörper war – und warum wir so oft lüften, obwohl es dann schnell kalt im Raum wird. Wir können mit ihnen kaum noch raus, weil nur noch wenige Aktivitäten möglich sind. Darunter leiden die Bewohner. Es gibt Momente, in denen sie in den Arm genommen und getröstet werden wollen. Auch das ist jedoch leider nur sehr eingeschränkt möglich. Das fällt auch den Mitarbeitern schwer, denn sie kennen die Bewohner zum Teil seit vielen Jahren und haben eine enge Bindung aufgebaut.“ Im Moment spielt sich corona- und wetterbedingt fast alles im Haus ab, und um einen größtmöglichen Schutz zu gewährleisten, machen Bewohner und Mitarbeiter zweimal die Woche Schnelltests. „Das gibt einerseits ein größeres Sicherheitsgefühl, fordert uns aber zusätzlich, weil die sieben Teams mit je zwei Mitarbeitern dafür abgestellt werden müssen“, so Hopfe. Besonders schwierig sei die Situation um Weihnachten herum gewesen, als ein Mitarbeiter an Covid-19 erkrankt war. „Einige Bewohner und Teile des Teams mussten deshalb in Quarantäne. Für die betroffenen Bewohner bedeutete das, dass sie ihr etwa 14 bis 20 Quadratmeter großes Zimmer nicht verlassen durften“, so Hopfe. Das galt unter anderem für die 77-jährige Anke Emminghaus. Sie berichtet, wie sie die Coronazeit erlebt: „Mir fehlt es sehr, mich mit anderen zu treffen und frei bewegen zu können. Ich habe zum Glück viele Hobbys. Ich lese gerne, stricke und fotografiere. Als ich in Quarantäne musste, konnte ich nicht einmal mehr selbst einkaufen gehen – das hat dann eine Mitbewohnerin für mich übernommen. Es war schlimm für mich, denn ich musste 14 Tage in meinem Zimmer bleiben.“ Umso mehr ärgert sie sich über Querdenker und andere Menschen, die keine Maske tragen wollen: „Das finde ich nicht gut und verantwortungslos. Die sollen genauso Maske tragen wie wir auch. Sie haben dieselben Rechte und Pflichten wie wir. Ich wünsche mir, dass das Virus bald verschwindet und wir bis dahin alle gesund bleiben.“ Das hofft auch der 66-jährige Heinz-Hermann Dirks: „Ich finde die Situation – auf Deutsch gesagt – scheiße. Ich kann nirgendwo hin und muss meistens zu Hause bleiben. Ich würde auch gerne mal wieder Spiele meines Lieblingsvereins Werder Bremen im Weserstadion sehen, aber auch das geht leider im Moment nicht. Wir können nicht ins Café, nicht ins Restaurant und nicht zum Friseur. Mein Malzirkel fällt auch aus. Und eigentlich lese ich gerne den anderen vor und singe im Chor – all das ist im Moment nicht möglich.“ Auch für die 48-jährige Tanja Brandt, die in den Werkstätten beschäftigt ist, hat sich durch die Pandemie viel verändert. Sie arbeitet nun in einem Schichtmodell mit geteilten Gruppen: an einigen Tagen geht sie arbeiten, an anderen ist sie zu Hause. „Ich kann außerdem leider meine Familie nur ganz selten sehen. Und unsere schönen Gruppenausflüge sind nicht möglich, weil die Parks geschlossen sind.“ Der 79-jährige Manfred Wilhelm Siemsen erzählt: „Ich habe meine Frau Edda im vergangenen Jahr verloren. Das war zu Beginn der Coronazeit. Wir waren 24 Jahre lang verheiratet und haben zusammengewohnt. Ich konnte sie wegen der Pandemie nur ein Mal im Krankenhaus besuchen, und kurz darauf ist sie dann gestorben. Das war ganz schrecklich für mich. Zur Beerdigung durften dann leider nur zehn Leute kommen, und wir konnten nicht einmal in die Kapelle, der Sarg musste draußen stehen.“ Anke Meyer, Abteilungsleiterin der heiminternen Tagesstruktur für die Tagesbetreuung der Senioren, erklärt: „Er war sehr tapfer und hat die Einschränkungen akzeptiert. Wenn ein Bewohner stirbt, dann ist die Anteilnahme unter den anderen sehr groß. Eigentlich gehen alle gemeinsam zur Beerdigung. Das war in diesem Fall leider nicht möglich. Das fiel auch den anderen sehr schwer, weil sie deshalb nicht Abschied nehmen konnten.“ Siemsen geht es inzwischen etwas besser und er verbringt viel Zeit mit kreativen Dingen: „Weil mein Kegelklub im Moment ausfällt, male ich stattdessen sehr gerne und arbeite mit Materialien wie Steinen und Figuren. Ich habe angefangen zu häkeln, am liebsten Topflappen, die ich verschenke.“ Meyer betont: „Das ist eines der wenigen guten Dinge in der Coronazeit: Die Bewohner widmen sich neuen Hobbys.“ Sie sorgt sich jedoch um die langfristigen Nebenerscheinungen der Pandemie: „Weil viele Aktivitäten nicht möglich sind, kann es zu einem Abbau von Fähig- und Fertigkeiten sowie der Mobilität kommen. Wir versuchen nach Kräften, das zu verhindern, denn wenn etwas verloren geht, ist es schwierig, es neu zu erlernen. Das gilt auch für die Offenheit der Bewohner: Sie waren vor der Pandemie sehr gut in den Stadtteil eingebunden, haben Klönschnack mit den Nachbarn gehalten, waren gemeinsam einkaufen und haben viele Veranstaltungen besucht – nun müssen sie Abstand halten und auf vieles verzichten. Es wird für sie eine große Umstellung, wenn all das wieder möglich sein wird.“ Hopfe wünscht sich, dass künftig Menschen mit Behinderung bei den Entscheidungen der Politik eine größere Rolle spielen: „Es erschreckt mich, wie wenig sie im öffentlichen Fokus stehen. Einrichtungen der Behindertenhilfe haben die Entscheidungsträger oft gar nicht auf dem Schirm. Das macht mich betroffen.“ Er bekommt Unterstützung von den Beauftragten für Menschen mit Behinderungen bei Bund und Ländern, die ein schlüssiges Konzept fordern: „Menschen mit Behinderung werden bei den Impfempfehlungen nicht vorrangig berücksichtigt, obwohl sie besonders gefährdet sind, im Falle der Erkrankung einen schwereren Verlauf zu haben“, betont Petra Wontorra, Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen in Niedersachsen. Sie hält es für wichtig, dass weitere Krankheitsbilder sowie Behinderungen, die bislang nicht erfasst sind, in die Priorisierungskategorien eingeordnet werden. Wontorra fordert zudem, dass in den Impfzentren besondere Rücksicht auf Menschen mit Behinderung genommen werden muss: „Sie müssen nicht nur barrierefrei zugänglich, also erreichbar, sein, auch die Abläufe dort müssen für alle Menschen verständlich und barrierefrei sein. Das bedeutet nicht nur, dass es keine Stufen auf dem Weg ins Impfzentrum gibt, sondern es umfasst viel mehr: Die Orientierung muss auch für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen gegeben sein. Die Informationen sowie die Aufklärung müssen in verständlicher und bei Bedarf auch in leichter Sprache vor Ort erfolgen. Das Personal muss im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen geschult und notwendige Assistenz muss akzeptiert werden.“ Wann die Bewohner des Wohnhauses Upp‘n Kopp geimpft werden, ob dafür ein Impfteam ins Wohnhaus kommt, sie ins Impfzentrum oder zum Arzt fahren müssen – darüber liegen Hopfe noch keine Informationen vor. „Wir haben aber unsere Bewohner schon auf alle Möglichkeiten vorbereitet und mit ihnen ausführlich darüber gesprochen.“ Für Anke Emminghaus steht danach fest: „Ich werde mich auf jeden Fall impfen lassen, sobald das möglich ist, damit wir geschützt sind und möglichst bald wieder ein normales Leben führen können.“ Hopfe lobt den Einsatz der Mitarbeiter in den vergangenen Monaten, warnt jedoch gleichzeitig davor, dass die Kräfte bald aufgebraucht sein werden: „Sie haben die zusätzliche Belastung bisher ganz toll gemeistert. Aber sie kommen an ihre Grenzen. Man darf nicht vergessen, dass es für sie schon unter normalen Bedingungen schwierig war, Menschen mit einer Behinderung umfänglich zu betreuen. Durch die zusätzliche Belastung in der Coronazeit ist es noch schwerer für sie geworden – dazu kommt die Angst vor Infektionen. Ich frage mich, wie lange die Mitarbeiter dieses Pensum noch schaffen werden. Zusätzlich erschwert wird die Situation dadurch, dass die Regelungen nicht immer einheitlich sind. Jedes Gesundheitsamt arbeitet anders.“ Die Lebenshilfe sei sehr gut vernetzt mit anderen Trägern, wie beispielsweise den Rotenburger Werken und der Stiftung Waldheim. „Wenn wir hören, dass es irgendwo Coronafälle gibt, dann macht uns das sehr betroffen. Dann werden wir selbst umso vorsichtiger und hinterfragen noch einmal unsere Maßnahmen. Bisher sind wir insgesamt trotz allem gut durch die Pandemiezeit gekommen. Ich hoffe, dass wir bald wieder mit den Bewohnern all die Sachen machen und wir ihnen all die Dinge ermöglichen können, die ihnen derzeit fehlen. Dazu gehört auch, dass wir sie einfach wieder in den Arm nehmen können. Die zwischenmenschliche Nähe fehlt ihnen derzeit ganz besonders.“