Rotenburg – Das Papier der Zeitung raschelt, am Nebentisch sorgen Stricknadeln und bunte Fäden für Beschäftigung. Der Straßenfeger in Rotenburg bietet Wohnungslosen und Menschen mit geringem Einkommen ein kleines Frühstück mit Brötchen und Kaffee, die Kreiszeitung liegt zum Durchblättern bereit. 50 Cent kostet ein Kaffee, ein belegtes halbes Brötchen ebenso – für manchen Klienten des Tagesaufenthalts ist das gerade zum Monatsende zu viel. Die Auswirkungen von Corona-Folgen und Inflation zeigen sich besonders deutlich bei Menschen, die mit wenig Geld über die Runden kommen müssen.
„Das trifft alle Menschen mit geringem Einkommen gleich“, sagt Wiebke Sprung. Die Diplom-Sozialarbeiterin und ihre Kollegin Alexandra Wurthmann haben die Problematik im Blick. Zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten insgesamt im Straßenfeger sowie im Birkenhaus, beides Einrichtungen des Vereins Lebensraum Diakonie. Sie sehen gerade in jüngster Zeit immer wieder, wie die Klienten, entweder Menschen von der Straße, Bürgergeldempfänger oder Frührentner, darüber klagen, dass es mit dem Geld knapp wird. Kein Wunder: „Wenn die Gurke im Regal 2,89 Euro kostet, überlege auch ich mir, ob ich zugreife“, sagt Sprung. Gesunde, abwechslungsreiche Ernährung werde für Menschen in finanziell prekärer Lage erschwert, wenn nicht gar unmöglich. Das Wort „Luxus“ fällt.
Wer sich den Kaffee für 50 Cent nicht mehr leisten kann, bleibt dann halt fern. Da zeigt sich eine soziale Facette des Inflationsproblems: Wer aufgrund fehlender finanzieller Mittel zu Hause bleibt, verzichtet damit ungewollt auch auf Begegnung und Miteinander. „Wer auf der Straße lebt und keine Vorratshaltung betreibt, versorgt sich anders, muss zum Beispiel zum Imbiss“, erläutert Sprung. Auf lange Sicht ist das teurer als der Griff in den Kühlschrank. Die Mitarbeiterinnen des Straßenfegers helfen, wo sie können: Für Wohnungslose ist die Frühstücksverpflegung kostenlos. Aus Spenden kann die Einrichtung hin und wieder Nudeln oder Fertiggerichte in Konserven herausgeben. Normalerweise würde man auch zur Tafel vermitteln, aber aufgrund von Aufnahmestopps ist das keine Alternative, erläutert Wurthmann. Von daher sei man froh über Spenden wie sie beispielsweise kurz vor Ostern von der Kreuzkirche eingingen: Mitglieder der Gemeinde haben Lebensmittelgutscheine gekauft und sie an die Einrichtung weitergegeben. Das ermöglicht den Mitarbeiterinnen, im Falle des Falles unkompliziert zu helfen. „Das dicke Ende kommt erst noch“, vermutet Sprung. Wer mit geringem Einkommen, etwa mit Bürgergeld oder Grundsicherung, ein Dach über dem Kopf hat, werde demnächst mit hohen Abrechnungen für Energiekosten konfrontiert. „Ich bin gespannt, was da auf uns zukommt“, sagt die Sozialarbeiterin. Auch die Stadt Rotenburg, die für die Versorgung von Obdachlosen mit Wohnraum zuständig ist, sieht das Problem einer steigenden Zahl von Betroffenen – „allerdings nicht wegen der gestiegenen Nebenkosten, sondern eher aus anderen Gründen. Zum Beispiel haben psychische Krankheiten zugenommen. Viele sind zunächst in der Psychiatrie und geraten von dort in die Wohnungslosigkeit“, sagt der zuständige Mitarbeiter Michael Rothammel. Oftmals handele es sich dabei um Personen von außerhalb, die nach ihrer Behandlung im Diakonieklinikum in Rotenburg bleiben und hier betreut werden müssen. Häufig habe es das Ordnungsamt auch mit ausländischen Arbeitskräften zu tun, die während ihrer Anstellung bei ihrem Arbeitgeber unterkommen und anschließend auf die Straße gesetzt werden. Über diese Beobachtungen hinaus habe das Ordnungsamt keine Erklärung für die Entwicklung der Zahlen, da die Mitarbeiter meist nicht detailliert nach den Gründen der Obdachlosigkeit fragen würden. Die Mitarbeiterinnen des Straßenfegers, die auch Wohnraum im Birkenhaus vermitteln, tun das hingegen schon. Ihrer Einschätzung nach führten oft Spätfolgen der Corona-Pandemie in die Schuldenfalle und daraufhin in die Obdachlosigkeit. „Das ist oft ein Rattenschwanz, den Betroffene nach sich ziehen“, schildert Sprung. In einem Fall sei eine Familie zerbrochen, der Betroffene hatte eine Baufinanzierung abzustottern, konnte das aber nicht mehr allein. Schulden führten in die Obdachlosigkeit. Genau wie der Straßenfeger will auch die Stadt helfen: „Wir wollen eine erste Stütze bieten und erst mal ein Dach über dem Kopf zur Verfügung stellen“, sagt Rothammel. Die genaue Anzahl an Obdachlosen sei schwer zu beziffern, da auch viele geflüchtete Ukrainer rechtlich als wohnungslos gelten. Aktuell seien rund 50 Menschen mit einem deutschen Pass oder einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung in Rotenburg obdachlos. Für diese Menschen habe die Kapazität in den städtischen Notunterkünften laut Rothammel im vergangenen Winter gerade so ausgereicht. Die Mitarbeiter seien viel mit Umstrukturierungen beschäftigt, um trotz der knappen räumlichen Ressourcen die Menschenwürde der Bewohner wahren zu können. So gebe es zwar immer noch keine eigene Unterkunft für obdachlose Frauen, jedoch sei für diese Gruppe mittlerweile eine eigene Etage freigeräumt worden. Auch Zwangsräumungen waren und sind ein Thema: Deutlich mehr davon habe es in den vergangenen Monaten allerdings nicht gegeben, heißt es aus dem Ordnungsamt. Aber: Schon vor der hohen Inflation und den explodierenden Energiepreisen sei die Zahl der Räumungen in den vergangenen Jahren stark gestiegen, sie bleibe nun also auf einem ohnehin hohen Niveau stabil. In Zahlen fassen lasse sich die Problematik aus Corona-Folgen und Inflation nur schwer – da sind sich Straßenfeger und Ordnungsamt einig. Allerdings lässt sich eine Sache mit Sicherheit sagen: Die Behörde und die Einrichtung arbeiten aufgrund der wachsenden Problematik mehr miteinander zusammen als zuvor. Wenn man an der Sache etwas Gutes finden möchte, dann wohl diese: „Die Zusammenarbeit funktioniert gut“, sagt Sprung. Spenden Der Rotenburger Straßenfeger nimmt Spenden in Form von warmer Kleidung, Konserven oder haltbaren Lebensmitteln zur Weitergabe an Betroffene an. Wer möchte, könne sich die Einrichtung auch gerne bei einem Kaffee anschauen, laden die Sozialarbeiterinnen ein.