Scheeßel. Anna Katharina Meyer ist eines von etwa 300.000 Euthanasie-Opfern. 1941 ist sie mit nur 39 Jahren in der Tötungsanstalt Hadamar vergast worden. Am Dienstag hat der Künstler Gunter Demnig für sie einen Stolperstein verlegt, vor ihrem Elternhaus, einem roten Fachwerkgebäude in der Schulstraße 5 in Scheeßel. Davor haben sich mehr als 50 Menschen versammelt, unter ihnen Meike Bênet und ihr Bruder André Cord Eggert. Sie sind die Enkel von Meyers Bruder – und bis vor wenigen Wochen wussten sie nicht viel von ihrer Großtante. „Ich kannte Fragmente aus Erzählungen meiner Großmutter. Sie sprach dann immer von ,diesem unglücklichen Kind‘, das aus Lüneburg nicht zurückgekehrt ist“, erzählt Bênet.
Gemeinsam mit Bênet und Eggert beobachten unter anderem der Geschichtslehrer Heinz Promann, der den Initiator für die Aktion, Ralf Ahlers, vertritt, Gemeindearchivar Karsten Müller-Scheeßel, Bürgermeisterin Käthe Dittmer-Scheele und Carola Rudnick, Leiterin der Euthanasie-Gedenkstätte Lüneburg, wie der Künstler unterstützt von Mitarbeitern der Gemeinde einen von bislang mehr als 70.000 Stolpersteinen verlegt.
Bis vor Kurzem kannten Bênet und Eggert nur Bruchstücke von dem, was damals geschehen ist. Dann hat Ahlers sie besucht. „Wir haben uns lange unterhalten, viele Fragen gestellt“, berichtet Eggert. „Uns war klar, dass es ein Nazi-Verbrechen war. Aber es gab keine weiteren Informationen, und wir haben nicht weiter gefragt – wir waren zu jung“, erzählt Bênet. „Wenn über die Zeit gesprochen wurde und mein Opa dabei war, ging es ihm nicht gut, dann hatte er Tränen in den Augen. Die gesamte Drittes Reich-Zeit hat ihn sehr mitgenommen“, ergänzt Eggert. Beide finden es wichtig, dass die Namen der Opfer veröffentlicht werden, es gebe nichts zu verbergen. „Zu vergessen, was die Nazis uns und unseren Familien, unschuldigen Menschen, angetan haben, wäre fatal“, ergänzt seine Schwester, die als kleines Kind in dem Fachwerkhaus gelebt hat. Sie war acht Jahre alt, als ihr Großvater einen Schlaganfall erlitt. „Zwei Jahre später, als die Aufarbeitung in der Schule begann, wäre es an der Zeit gewesen, über so etwas zu reden.“ Umso schöner sei es, dass der Stein seinen Platz vor dem Elternhaus findet. Bênet ist dankbar für die Arbeit aller Beteiligten, um Opfern wie Meyer ihren Namen wiederzugeben. „Unser Vater ist vor einem Jahr gestorben. Er wäre sicher gerne hier gewesen, um diese Wertschätzung zu erleben“, sagt die Scheeßelerin. Promann, Lehrer an der BBS, und seine Schüler haben sich in den vergangenen Jahren mit Projekten beschäftigt, die an die Opfer des Nationalsozialismus in der Region erinnern. „Dies ist der erste Stolperstein im Landkreis außerhalb Rotenburgs, und das ist etwas Besonderes. Und es ist hoffentlich nicht der letzte“, sagt er eingangs. Müller-Scheeßel erzählt aus Meyers Biografie – zumindest das, was heute bekannt ist. „Mit der Verlegung wollen wir Anna Katharina Meyer ein Stück ihrer menschlichen Würde zurückgeben. Wir wollen dazu beitragen, dass die Erinnerungen an die Gräueltaten der Nazis wachgehalten werden“, meint er sichtlich bewegt. Auch die Verwaltungschefin begrüßt die Anwesenden zu einem „bewegenden und bedeutenden Anlass in unserer Gemeinde“. An diesem Ort habe ein Mensch gelebt, dem Unrecht widerfahren ist. „Es ist wichtig, darüber nachzudenken und ins Gespräch zu kommen.“ Einen Einblick, wie Euthanasie-Maßnahmen in der Region durchgeführt wurden und wer neben Meyer betroffen war, gibt es von Rudnick. Sie stellt heraus, dass die Ärzte sich im Klaren darüber waren, dass sie „ihre Schutzbefohlenen in den sicheren Tod schicken“. Denn die sogenannte Aktion „T4“, die Ermordung von Anstaltspatienten, war bis ins kleinste Detail geplant. Dabei waren bis ins Jahr 2012 kaum Einzelschicksale bekannt. „Viele Kollegen dachten, dass die Namen nicht öffentlich gemacht werden dürfen“, erklärt Rudnick, die das gänzlich anders sieht. Mit der Unterstützung von Pflegeschülerinnen aus dem Krankenhaus forscht die Leiterin seit 2017 in einem Projekt über das Leben weiblicher Euthanasieopfer der T4. In diesem Rahmen entstand der Kontakt zu Ralf Ahlers. Rudnick verlas eine Liste aller Namen und die Herkunftsorte bekannter Opfer aus dem Landkreis – 14 Frauen und vier Männer. Insgesamt sind es 227 Frauen und 247 Männer, die über die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in Tötungsanstalten kamen. Im zweiten Transport über die Zwischenanstalt Herborn nach Hadamar befand sich Meyer. Eine Anstalt wie Herborn sollte die Taten vertuschen. „Und sie sorgten dafür, dass die Nazis die einzelnen Transporte besser koordinieren konnten – salopp gesagt, man verhinderte Stau vor der Gaskammer“, macht Rudnick deutlich. Am Tag nach der Verlegung weist eine Leitbake auf die Stelle hin, an der der zehn mal zehn Zentimeter große Stein in den Gehweg eingelassen ist. Daneben hat jemand eine Kerze entzündet – Anna Katharina Meyer ist nicht vergessen.