Scheeßel. Ein Schuh, von Moos überwuchert, ein Verkehrsschild in einem Wald, Spielzeug auf dem Fußboden eines ehemaligen Kindergartens, das seit 33 Jahren kein Kind mehr angerührt hat: Es sind Zeugen wie diese, die daran erinnern, dass das Leben in der ukrainischen Stadt Prypjat am 27. April 1986 um 16.30 Uhr aufhörte und die letzten Busse die sowjetische Planstadt verließen. Diese Zeugen hält die Scheeßelerin Lena Gehring in Bildern fest – bei einem Besuch in der Region, die durch den Reaktorunfall am 26. April 1986 in Tschernobyl traurige Berühmtheit erlangte.
Gehring ist fasziniert von Lost Places, vergessene Orte, Ruinen, technische Einrichtungen, die irgendwann einmal ver- und dann sich selbst überlassen wurden – wie beispielsweise die Geisterstadt Kolmanskop in Namibia. „Irgendwann sah ich, dass man auch Prypjat und Tschernobyl besuchen kann“, sagt die Scheeßelerin. Als sie auf dem Tagesausflug von Kiew aus nach zwei bis drei Stunden Fahrt im Sperrgebiet ankommt, ist es allerdings anders, als an den übrigen vergessenen Orten, die sie bisher besucht hat.
Denn zu dem Besuch gehören Verhaltensregeln: nichts anfassen, möglichst wenig Staub aufwirbeln und den Rucksack nicht auf den Boden stellen. Vorher und nachher untersucht sich Gehring mit einem Dosimeter, die Schuhe, die sie bei der Tour trägt, fliegen danach in den Müll. „Die Belastung, auch wenn sie natürlich nicht mehr so hoch ist, ist immer für mich präsent gewesen“, erinnert sich Gehring. Aber vor allem ist es die emotionale Ebene, die diesen verlassenen Ort deutlich von den anderen, die sie bereits besucht hat, unterscheidet: „Ich fand es heftig. Hier haben Menschen einen Ort nicht Stück für Stück verlassen, sondern ad hoc. Und das in der Hoffnung, in wenigen Tagen zurückzukommen. Viele sind im Nachhinein aufgrund der Strahlung, der sie ausgesetzt waren, erkrankt und gestorben.“ Mittlerweile sind einige der Dörfer in der Sperrzone wieder bewohnt, zumeist von älteren Menschen, die wieder in ihrer Heimat leben wollten. Auch auf dem Gelände des Reaktors ist Betrieb, Arbeiter sind mit der Entsorgung und Demontage des Kraftwerks beschäftigt und leben auch dort – zumindest für kurze Zeit, bis sie aufgrund der Strahlenbelastung die Region erst einmal wieder verlassen müssen. Prypjat dagegen ist in das Visier des Fremdenverkehrs gerutscht: Es gibt Touren in die Stadt – legale und illegale. Von ersterer Sorte ist die, die sich Gehring angeschlossen hat. „Ich bin keine Katastrophentouristin“, macht sie deutlich. Vielmehr geht es ihr um die Geschichte des Ortes und um die Frage, wie sich die Natur das zurückholt, was ihr die Erbauer der Stadt weggenommen hatten. Beeindruckt ist sie dabei vor allem von dem Museum, das an die Katastrophe erinnert, weniger dagegen von den Selfiejägern, die vor allem seit der US-Serie „Chernobyl“ in die Stadt kommen und sich vor Denkmälern, wie dem für die gestorbenen Feuerwehrmänner, in Pose werfen. „Es ist wichtig, sich immer vor Augen zu führen, was dort passiert ist, dass dort Menschen gestorben sind“, betont sie. Ihr geht es bei ihren Bildern um etwas anderes: „Irgendetwas schön in Szene zu setzen geht da einfach nicht. Dort ist eine Tragödie passiert, und das würde ein schönes Bild verfälschen“, sagt sie. Sie setzt dagegen auf Detailaufnahmen, die ein realistisches, beklemmendes Bild vom Ist-Zustand aufzeigen und dennoch an das Leben erinnern sollen, das in Prypjat so abrupt endete. Zumindest, was das menschliche Leben angeht: Tiere haben sich in den Gebäuden eingenistet, „darunter ein Fuchs namens Simon, der fast schon berühmt ist“, sagt Gehring. Die Stadt ist grün geworden – auch wenn die Hinterlassenschaften, sichtbar wie unsichtbar, noch lange an die Tragödie erinnern werden.