Westervesede (r/jl). Am Ende gab es Tränen: Als Rainer Bassen sich in Novorossijsk am Schwarzen Meer von seinen neuen Freunden verabschieden musste, fiel nicht nur ihm die Heimreise schwer. In den vergangenen drei Wochen hatte er – beginnend in Nisnij Novgorod – eine Strecke von mehr als 2.500 Kilometern gemeistert.
Mit dem Rad, dem Zug, mit Bussen und Taxi, aber auch manchesmal befördert von Menschen, die er am Tag zuvor noch gar nicht kannte, hatte der Westerveseder die abenteuerliche Strecke vom Rande des borealen Nadelwaldes an die Küste des Schwarzen Meeres bewältigt und dabei mehr als nur eine Klimazone durchquert. „Der Tacho zeigte dieses Mal ‚nur‘ 918 Kilometer – nach 18 Tagen keine sportliche Bestmarke, aber das ist mittlerweile Nebensache“, meint Bassen zu seiner Fahrt durch die Weiten Russlands. Viel entscheidender seien die Bekanntschaften, die Freundschaften und die Erkenntnisse gewesen, die er auf der Reise habe gewinnen können.
Dabei hatte die Fahrt wenig erfolgsversprechend begonnen. Zwar kam Bassen mit seinem Flugzeug rechtzeitig in Nisnij Novogorod an, allein sein Fahrrad mitsamt Gepäck und Ausrüstung für die Reise war nicht aufzutreiben. Beides war auf der langen Flugstrecke zwischen Hamburg und der Metropole östlich von Moskau hängen geblieben. So machte sich Bassen zu Fuß auf, die Stadt zu erkunden, immer mit dem Gedanken ob und wann sein Gefährt am Flughafen eintreffen würde. Zum Glück, so Bassen, habe er für den zweiten Tag seiner Reise sowieso eine Stadtbesichtigung zu Fuß geplant, einer Verzögerung durch ausbleibende Lieferung des Rades habe er also etwas entspannter entgegensehen können. Nachdem das Rad endlich den Ausgangspunkt der Reise erreicht hatte, schwang sich der 52-Jährige in den Sattel und begann seine Fahrt in Richtung Rostov am Don, dem ursprünglich angepeilten Ziel. Doch da Bassen die meisten Planungen – Wo geht es mit Bus oder Zug weiter? Welche Strecken lassen sich mit den Rad befahren? – erst vor Ort abschließend konnte, erwies sich der vorab überlegte Reiseplan mit fortlaufender Dauer der Fahrt als immer weniger einzuhalten. Über Kazan mit der beeindruckenden Kul-Sharif-Moschee ging die Fahrt nach Uljanowsk. Die Stadt, ursprünglich im Jahre 1648 unter dem Namen Simbirsk als militärischer Stützpunkt des Zarenreiches gegründet, wurde nach dem Tode Lenins 1924 zu seinen Ehren umbenannt. „Der Kult um den sowjetischen Revolutionsführer wird auch heute noch in der ganzen Stadt hochgehalten“, berichtet Bassen. Neben vielerlei Devotionalien und Andenken gibt es auch Monumentalbauten, die dem Leben des ehemaligen Revolutionärs huldigen. Das stellte auch der Westerveseder fest, als er die Sadt besuchte: „Mächtig wirkt insbesondere der Betonklotz, in dem unter anderem umfangreiches Material rund um das Lebenswerk des früheren Sowjet-Revolutionärs ausgestellt ist.“ Die Wolga zu überqueren stellte sich als leichter gesagt als getan heraus, zumal die Brücken über den Strom nicht für Fahrräder freigegeben waren. Trotz des Risikos, angehalten zu werden, entschloss sich der Radler aus Westervesede für den Sprint über die Brücke: „Augen zu und mit Tempo an den Kontrollhäuschen an beiden Uferseiten vorbeirauschen. Vielleicht etwas leichtsinnig, aber es hat funktioniert“, meint Bassen zu seinem Husarenritt auf das östliche Ufer. Auf dem jenseitigen Wolgaufer wollte Bassen nach ein paar Tagen Fahrt die Strecke per Bustransfer abkürzen, leider wollte aber kein Bus ihn und sein Fahrrad transportieren. Auch der Zug kam nicht in Frage, da die Kontrollen an Ein- und Ausgängen derart viel Zeit in Anspruch nahmen, dass der Radreisende längst jeden Anschluss verloren hatte. Doch Bassen wollte sich so leicht nicht geschlagen geben und verhandelte stundenlang mit verschiedenen Taxifahrern über einen Transport nach Balakowo. Für umgerechnet 70 Euro konnte er anschließend die Strecke per Taxi zurücklegen. Den ersten persönlichen und familiären Kontakt mit der Bevölkerung bekam Bassen dann in der Großstadt Engels, die den Namen des deutschen Philosophen und Gesellschaftstheoretiker Friedrich Engels trägt. Dort lebt Sergey Nikolaev, der schon auf Bassens Ankunft gewartet hatte, denn er ist ein guter Freund eines Rotenburger Speditionsunternehmers. Dieser wiederum war es, der Bassen vor einigen Jahren auf die Idee gebracht hatte, diese Region zu bereisen, da er dort, an der Wolga, zwischen den Städten Marx und Engels aufgewachsen. „Als Waldemar von der Wolga sprach, machte er mir das Angebot, mir einen Kontakt in seine frühere Heimat zu vermitteln. Damit war der Grundstein für die Planung gelegt, in den folgenden Monaten bastelte ich mir mit meinem Kartenmaterial und Google Maps eine Route, die im Nachhinein betrachtet sehr ambitioniert ausgelegt war“, blickt Bassen zurück. Schließlich sei die ganze Dimension der russischen Weiten und die Beschaffenheit der Wege aus Gogle Maps nicht immer direkt ersichtlich und schon gar nicht vorstellbar. Auch die diversen Kleinigkeiten, die den Radreisenden aufhalten können, lassen sich bei solchen Fahrten immer erst vor Ort erkennen. Wie reibungslos und unkompliziert aber alles verlaufen kann, wenn die sprichwörtliche russische Gastfreundschaft zum Tragen kommt, erlebte Bassen von nun an bis ans Ende seiner Reise an die Schwarzmeerküste. „Waldemars Freund gab mir Unterkunft bei seiner Familie auf der kleinen Hofstelle in Beloyarskiy, eine knappe Autostunde von Saratow entfernt. Sergey ist Landwirt, Lehrer und Kassierer bei der hiesigen Filiale der Sberbank, Russlands größter Bank“, berichtet Bassen. Dergebildete, sportliche sowie Deutsch und Englisch sprechende Sergey, seine Frau und die beiden Kinder erzählten und zeigten ihm in kurzer Zeit viel aus ihrem Leben. „In einer Schule für insgesamt nur 13 Kinder von der ersten bis zur achten Klasse waren wir zu einer Besichtigung angemeldet – die beeindruckenden Bilder werde ich nicht vergessen“, erinnert sich der Westerveseder. Auch der Transfer an sein nächstes Ziel ging sozusagen Hand in Hand. Bassen wollte nach Wolgograd, an den Schauplatz der wohl blutigsten und bekanntesten Schlacht des letzten Weltkrieges, die damals noch nach dem sowjetischen Staatsführer Stalin benannt war. Mit Nikolaevs Auto und Bassens Fahrrad im Gepäck legten die Beiden die 500 Kilometer entlang der Wolga zurück. So kürzten sich mehrere Tage Fahrt auf einen einzigen zusammen. Um Mitternacht traf Bassen auf „den nächsten Sergey“, ein Facebook-Freund einer nahe Moskau lebenden Frau, die er 2015 auf der Tour von Minsk nach Moskau kennengelernt hatte. „Mit totaler Selbstverständlichkeit gab mir Sergey Iljasow nach 30-minütigem Kennenlernen bei einer Bierlänge die Schlüssel für seine Wohnung“, berichtete Bassen. „Den Kühlschrank habe er gefüllt, ich sollte es mir bequem machen. Morgen früh käme er von einem Bruder zurück, dann würden wir gemeinsam das Sightseeing-Programm für die Metropole planen. Dieses gewisse ‚Vertrauen unter Bike-Gleichgesinnten‘ habe ich bereits vielfach erlebt.“ Mit dem neuen Gastgeber fuhr der Westerveseder dann am nächsten Tag per Rad zur Kriegsgräberstätte Rossoschka. Auch wenn längst noch nicht alle Überreste der mehr als 1,5 Millinen Toten auf beiden Seiten geborgen wurden, so haben hier doch immerhin mehr als 200.000 deutsche und sowjetische Tote ihre Ruhe gefunden. „Mit Ehrfurcht, Demut und Scham habe ich die Dimension und Ausstrahlung der Stätte auf mich wirken lassen“, beschreibt Bassen seine Stimmung an diesem historischen Ort. Zum Schluss führte die Reise den Radfahrer an die warme Küste des Schwarzen Meeres, nachdem ihn sein Gastgeber von der Route nach Rostov abgebracht hatte. Noch bevor Bassen mit dem Zug in Novorossijsk angekommen war, hatten sich bereits neue Menschen gefunden, die ihm nicht nur Obdach bieten, sondern auch ihre Heimat zeigen wollten. In Novorossijsk gibt es eine relativ große Vereinigung von Fahrradbegeisterten, die sich mit Begeisterung um den radelnden Deutschen kümmerten. Gemeinsam mit den neuen Freunden besuchte der Westerveseder unter anderem die Champagnerfabrik in Abrau Durso, wo der auch hierzulande bekannte Krimsekt gekeltert wird. Vor dem Rückflug aus Rostov nach Hamburg stand dann aber noch der wehmütige Abscheid von allen Leuten, die ihm die Tage in den Weiten Russlands so angenehm gemacht hatten. „Trotz eines gewissen Reisestress begleitet mit dem Gedanken ‚wie geht es weiter?‘, hatte ich wundervolle Begegnungen, und bei den Abschiedsumarmungen gab es feuchte Augen“, sagte Bassen. „Spasibo, danke für alles.“