Stark und ohne Furcht - VON ANTJE HOLSTEN-KÖRNER

Mit dem Rolli durch den Skatepark

Das Glück der Erde: Lilly im Reiterurlaub mit Wallach Harlekin.  ©HOLSTEN-KÖRNER(

Der 16-jährigen Lilly Kraft wurde ein Nerv an der rechten Wade bei der Entfernung eines gutartigen Tumors beschädigt. Jetzt meistert sie das Leben mithilfe eines Rollstuhls.

Hassendorf – Skaten, Wakeboarden, Biken oder Zumba – das sind alles Sportarten, die man nicht unbedingt mit einem Rollstuhl in Verbindung bringt. Dass das doch möglich ist und viel Spaß macht, möchte Lilly Kraft zeigen und dabei noch Hemmschwellen gegenüber dem Rollstuhl abbauen. „Für mich ist der Rollstuhl ein Hilfsmittel wie eine Brille“, sagt die 16-Jährige, deren Fußhebernerv nach der Entfernung eines gutartigen Tumors an der rechten Wade im April 2021 nur noch weniger als 15 Prozent intakt ist. Die Operation war nicht zu vermeiden, denn ohne sie hätte der wachsende Tumor im Laufe der Zeit nicht nur den Nerv, sondern auch weiteres Gewebe beschädigt. Seitdem kann die Hassendorferin – trotz einer Fußheber-Orthese – nur kurze Wege auf eigenen Beinen unterwegs sein, bevor die Schmerzen zu stark werden. „Das ist ein großes Handicap, denn Gleichgewicht und Koordination werden dadurch stark beeinträchtigt“, erklärt Lillys Mutter Tanja Kraft.

In den ersten Monaten versuchte Lilly Kraft, die Strecken zu Fuß zu meistern. „Ich hatte eine tolle Klassenlehrerin. Sie fragte mich, ob nicht ein Rollstuhl sinnvoll wäre“, erinnert sich die Gymnasiastin. Da war sie jedoch noch nicht so weit. Erst ein Aufenthalt in der Reha im Januar 2022 öffnete ihr die Augen: „Mir wurde ein Rollstuhl auf das Zimmer gestellt, damit ich mich daran gewöhnen kann.“ Schnell merkte sie, dass der Rollstuhl das Leben einfacher macht.

Dass sie auch ohne Rollstuhl mobil ist, ist kein Einzelfall. „Rund 60 Prozent der Rollifahrer können ebenfalls einige oder mehrere Schritte laufen“, schätzt Lilly Kraft, die schon immer sportlich aktiv war. Zu ihren Aktivitäten gehörte Aerobic beim TuS Rotenburg, mit dem sie schon zahlreiche Erfolge feiern konnte. Trotz des Handicaps machte sie bei den Auftritten für wenige Minuten weiter. „Im vergangenen Jahr musste ich aufhören, denn die Schmerzen waren so stark, dass ich am nächsten Tag nicht schulfähig war“, bedauert Lilly Kraft. Auch Skiurlaube, die bis 2022 jedes Jahr bei Familie Kraft im Kalender standen, liegen derzeit auf Eis. „Mit einem Heckeinsteiger war das möglich, doch nach einer Abfahrt war Lilly fertig“, berichtet Tanja Kraft. Dafür stehen andere Urlaube – wie beispielsweise im vergangenen Herbst die Kreuzfahrt mit Besuchen in den USA und Kanada – an. „Es ist alles möglich, es muss aber deutlich mehr organisiert werden“, sagt Lillys Mama, die durch die immer wieder anstehenden Arzttermine ihre Betreuung von Krippenkindern nur noch bis 14 Uhr anbietet.

Besonders gern mag Lilly Kurzurlaube an der Ostsee. Im Sand kommt oftmals die neue Barfußschiene zum Einsatz. „Die kennen viele nicht. Als wir diese bei der Reha gezeigt haben, waren alle begeistert“, erzählt Tanja Kraft. Doch es gibt auch Einschränkungen: „Da Lilly keine ‘aG’, also eine außergewöhnliche Gehbehinderung zugestanden wird, ist für sie ein Besuch vom Biathlon auf Schalke nicht möglich, denn in Gelsenkirchen darf Lilly nur in den normalen Bereich. Das ist aber nicht umsetzbar“, bedauert Tanja Kraft. Ein positives Beispiel ist dagegen das Hurricane in Scheeßel, das Lilly, gemeinsam mit ihrer Mutter, in diesem Jahr erstmals besuchte.

Das Glück der Erde liegt für Lilly auch auf dem Rücken der Pferde. Doch kein Reitstall in der Umgebung wollte die 16-Jährige reiten lassen. „Ich kann das nicht nachvollziehen, denn in Flensburg, wo wir jedes Jahr Urlaub machen, geht es doch auch“, wundert sich Tanja Kraft. Daher fahren sie jetzt jeden Donnerstag in das fast 25 Kilometer entfernte Helvesiek, wo Reittherapie angeboten wird. Der Reitunterricht auf der braunen Stute Fly mit einem Stockmaß von 1,70 Metern wird von Familie Kraft privat finanziert.

Seit Januar ist die Hassendorferin bei Sit’n’Skate dabei, einem gemeinnützigen Verein, der Treffen und sportliche Aktivitäten von Rollstuhlfahrern in Skateparks organisiert. Hier stehen jedes Wochenende Events in unterschiedlichen Städten in Norddeutschland auf dem Plan, die Lilly, Tanja und Vater Henry Kraft, wenn es nicht sein Dienstwochenende im Sottrumer Freibad ist, gemeinsam besuchen.

Trainiert wird vom Skate-Weltmeister David Lebuser, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt. „Es macht nicht nur riesigen Spaß, sondern man bekommt viele gute Tipps und fühlt sich mit seinem Schicksal nicht allein“, schwärmt sie vom Angebot, dass sich über Spenden finanziert. „Es ist ein Mitmachverein für alle. Sie unterstützen sich gegenseitig“, ergänzt Henry Kraft. Auch im Alltag profitiert seine Tochter vom Skaten, denn durch die erlernten Tricks lassen sich Hindernisse leichter überwinden. Dabei kommen ihr natürlich auch die Mountainbike-Reifen, die die dünnen Reifen des Rollstuhls ersetzen, zugute. Aber noch wichtiger: Die Lebensfreude der 16-Jährigen hat durch diese Termine einen großen Satz nach vorne gemacht. Wie es aussieht, darf Lilly Kraft sogar Mitte September an den Deutschen Meisterschaften teilnehmen.

Ein weiteres Projekt ist der Führerschein. „Die Fahrschule Franke hat ein Fahrzeug, das mit Linksgas gefahren werden kann“, freut sie sich. Wenn sie den Führerschein in der Tasche hat, wird auch das Familienauto umgebaut. „Wir haben uns beim Autohaus Ottens erkundigt: Der Umbau, damit zwischen Rechts- und Linksgas umgeschaltet werden kann, ist gar nicht so teuer“, weiß Tanja Kraft.

Leider gibt es aber auch immer wieder einmal schlechte Tage, an denen die Schmerzen sehr präsent sind und den Alltag dominieren. Und die sind nicht zu kalkulieren. „Daher kann ich abends nicht versprechen, dass ich am nächsten Morgen zur Schule gehen kann“, erklärt Lilly Kraft. Sehr dankbar ist sie daher für das Verständnis und die große Unterstützung, die sie am Sottrumer Gymnasium von allen Seiten erfährt. „Es ist leider nicht selbstverständlich, dass ein Rollstuhlfahrer, der nicht ständig am Präsenzunterricht teilnehmen kann, Abitur machen kann“, sagt Kraft, die von einer Bekannten weiß, die in ganz Hamburg keine Schule gefunden hat, die sie nach der zehnten Klasse aufnehmen wollte.

Und nach dem Abitur? „Ich möchte auf Grundschullehramt in Flensburg studieren“, verrät sie. Dort bietet die Uni Rollstuhlfahrern ein Studium an und Lilly Kraft kennt die Stadt bereits von den Reiterferien. Außerdem ist die Ostsee fast gleich vor der Haustür. Auf ihrer persönlichen Agenda stehen auch Wakeboarden sowie Mono-Skifahren. „Und ganz viel Reisen“, sagt Lilly Kraft mit einem ansteckenden Lachen.