Die Folgen nationalitischen Irrsinns: der Tod von Karin Prüser im April 1945

Von Statistik und Tragödie

Das Mahnmal in Hellwege: Auf dem rechten Mauerwerk findet sich der Name von Karin Prüser, die während der Kampfhandlungen um das Dorf an der Wümme starb. Fotos: Jens Lou00ebs
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Hellwege. Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Versailles endeten vor 100 Jahren offiziell die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs. Millionen Menschen waren gefallen oder schwer verwundet in die Heimat zurückgekehrt. Angesichts dieser Verluste und der häufig im Felde unbestattet gebliebenen Soldaten gründete sich damals der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, um den Gefallenen eine würdige Bestattung zukommen zu lassen. Gigantische Grabanlagen entstanden.

Damit aber auch die Angehörigen in der Heimat einen Ort zum Trauern haben, wurden in vielen Städten und Dörfern Ehrenmäler errichtet, mit Namen und Todesdaten der Gefallenen des jeweiligen Ortes. Der Friedensvertrag von Versailles sollte nach Ansicht derjenigen, die ihn ausgeabeitet hatten, den Frieden für alle Zeit sichern – eine Hoffnung, die knappe zwanzig Jahre später durch die Kanonen der Schleswig-Holstein vor Danzig beendet wurde.

Wenn heute politische Kräfte sich an eine ehemalige Größe unseres Landes anlehnen möchten, die so viel Leid über die Welt brachte, ist es angeraten, sich den Ehrenmälern des Kreises zuzuwenden und sie neu zu interpretieren. Nicht als Ehrenmäler sollten sie uns dienen, sondern als Mahnmäler. Der oft beschworene „Heldentod“ des „Kriegers im Felde“ war bei Vielen nichts anderes als ein langsames Verrecken im Schlamm von Flandern, ein Erfrieren in den Weiten des Ostens: Heldenhaft ist wohl nichts davon. Allein im Landkreis Rotenburg existieren über 80 dieser Mahnmäler mit den Namen der in beiden Weltkriegen Gefallenen. Die Anzahl der darauf Verewigten zu zählen wäre müßig und wenig sinnvoll, um auf die Grauen zu verweisen, die übersteigertes nationales Denken und Handeln mit sich bringen kann. Denn ein häufig in diesem Kontext zitiertes Sprichwort besagt, dass Millionen Tote nur Statistik sind, das Einzelschicksal aber die Tragödie birgt. Der wirkliche Mehrwert, den diese bislang stummen Zeitzeugen in sich bergen, findet sich hinter den ehernen Lettern der einzelnen Namen. Die Erinnerung an eine dieser tragödien verbirgt sich hinter der Liste der Gefallenen am Hellweger Mahnmal.

Das Ensemble in der Kurve bei Prüsers Gastthof ist in seiner heutigen Form ein Kontrukt der 1950er-Jahre, in denen es um zwei seitliche Mauerwerke ergänzt wurde, um den Toten des Zweiten Weltkriegs Platz zu bieten. Ursprünglich errichtete die Gemeinde das Bauwerk 1924, vor genau 95 Jahren, zu Ehren der im Ersten Weltkrieg gefallenen Männer des Ortes. „Im Weltkriege starben füs Vaterland aus der Gemeinde Hellwege“, liest der Besucher, traditionell national überzeichnet, auf der Stele in der Mitte. Auch der restliche Eindruck der Anlage ist eher konservativ: Die Namen stehen in bronzenen Lettern mit Geburts- und Todesjahr, die Gefallen des Ersten Weltkriegs in Reih und Glied in der Mitte, die des Zweiten Weltkriegs schon etwas entzerrter auf den Mauern links und rechts. Dann aber, zwischen allen Hinrichs, Heinrichs und Herrmanns findet sich ein Name, der sofort die Aufmerksamkeit erregt: Karin Prüser. Und noch aufmerksamer wurde ich, als ich das Geburtsjahr der Toten las: 1942. Im Jahr 1942 geboren wäre sie jetzt mit 77 vermutlich eine rüstige alte Dame und hätte ihre Jugendjahre an der Wümme verbracht Die Mühsal der Nachkriegsjahre, als der letzte Familienschmuck für einen Sack Kartoffeln getauscht wurde, wäre ihr immer in Erinnerung geblieben. Die große Ära des Rock’n’Roll in der 1950er-Jahren, aber auch die Beatles und die Blumenkinder der 1960er-Jahre wären Teil ihre jungen Lebens gewesen. Sie hätte die Teilung, aber auch die Wiedervereinigung des Landes erlebt und würde heute eingedenk mancher politischer Ereignisse den Kopf schütteln und zur Besinnung rufen. Wahrscheinlich hätte sie Kinder und Enkelkinder, denen sie beim Spielen und Großwerden zusehen könnte. Alles steht im Konjuktiv, denn es sollte anders kommen.

Um zu verstehen was passierte, ist es angeraten, sich die Geschehnisse zwischen Elbe und Weser im April 1945 vor Augen zu führen, als der aus Größenwahn geborene Krieg nach Deutschland zurückkehrte. Die hastig zusammengesammelten Divisionen auf deutscher Seite hatten wenig Muße zum Verfassen von Tagebüchern und Lageberichten, und so stammt ein Großteil der Erkenntnisse aus den Aufzeichnungen der damaligen Gegner. Da diese ihre Bewegungen akribisch notierten, lässt sich zumindest erahnen, was die Bevölkerung des Landkreises in den letzten Wochen des Krieges durchmachen musste. Die Verteidigung lag in den Händen von Truppenverbänden, die aus unterscheidlichsten Heeres- und Reserveverbänden zusammengesetzt waren: Polizei, Volkssturm, Hitlerjugend, aber auch SS und erfahrene Wehrmachtssoldaten versuchten, die alliierten Truppen so lange wie möglich hinzuhalten. Glaubten sie noch an den propagierten Endsieg, oder ging es nur noch um das Freihalten der Ostseehäfen? Die Wenigsten waren vermutlich derart realitätsfern, an einen Sieg zu denken, auch zeigen die Aufzeichnungen der Briten, dass sich die Verbände oft scharenweise ergaben, um das sinnlos gewordene Ausharren zu beenden. Nur an manchen Stellen hielt sich lange erbitterter Widerstand, und gerade hier hatte die Zivilbevölkerung besonders zu leiden. Wurde zudem der Verdacht laut, dass sich Zivilisten an den Kämpfen beteiligt haben, so zeigen die Beispiele von Sögel und Friesoythe, dass auch auf britischer Seite mit unerbittlicher Härte vorgegangen wurde. Auch waren die britischen Kräfte an einem raschen Ende der Kampfhandlungen interessiert und gingen in drei Wellen gegen Dörfer vor, die sich nicht gleich zu Beginn ergaben. Nach Artilleriebeschuss folgte der Angriff gepanzerter Kräfte, ehe die Infanterie in den Ort einrückte. Das zumindest war die Vorgabe, solange die Gegebenheiten der Ortschaft es zuließen.

In Hellwege stellte sich die Situation wie folgt dar: Der Bereich zwischen Allerndorf und Posthausen war durch Nebelwerfer – Raketenwerfer, benannt nach ihrem Entwickler Rudolf Nebel – für den Vormarsch blockiert, also rückten Kanadier und Briten zunächst aus Richtung Haberloh und von Achim aus über Wümmingen auf Hellwege vor. Am 20. April, während der Feierlichkeiten zu Hitlers Geburtstag, erreichthe die Front Hellwege. Viele Familien waren in ihren Häusern und verlebten den Feiertag, während sich etwa 150 deutsche Soldaten im Ort aufhielten. Der erste Beschuss begann aus Richtung des Friedhofes. Einen eindrucksvollen Bericht über den Beginn der Kämpfe liefert der Aufsatz eines Hellweger Schülers aus dem Juni 1946, ein Jahr nach Kriegsende: „In der Zeit von 15 bis 16 Uhr begann der Beschuss. Feindliche Späher hatten sich an das Dorf herangearbeitet. Karabiner- und MG-Feuer versetzten die Bevölkerung in Aufregung. Bald beschossen auch leichte Artilleriewerfer des Feindes das Dorf. Langes und Eggers Haus, die den Angreifern gute Ziele boten, wurden in Brand geschossen“, heißt es dort.

Der Ablauf der folgenden Ereignissen ist über die Mutter zu Karins jüngere Geschwister gelangt, die alllesamt erst nach dem Krieg zur Welt kamen:

Karin Prüser und ihre Mutter lebten damals im Westen des Dorfes, auf der Höhe des heutigen Eichenhhofs. Der Vater war bereits im Juni 1942, zwei Monate nach Karins Geburt, in Russland gefallen. Beim Einsetzen des Artilleriefeuers nahm die Mutter ihre Tochter – die erst kurz zuvor ihren dritten Geburtstag gefeiert hatte – an der Hand und wollte sich mit ihr in den nächsten Unterstand retten. In der Nachbarschaft hatten die Bewohner Hellweges mehrere solcher Bauten errichtet. Es waren Gruben, die zu den Seiten und nach oben mit Balken verstärkt worden waren, oben lag zudem noch eine Schicht Sand oder Erde. Durch eine Treppe oder Leiter konnte man hineingelangen und Beschuss durch Bomben und Granten abwarten. Bei jeder Explosion in der Nähe erzitterte der provisorische Bunker, und Sand rieselte von der Decke. Die im Unterstand Ausharrenden wussten, dass die Sicherheit dort drinnen keine verlässliche war. Einen Volltreffer hätte die Konstruktion nicht überstanden, vor der Splitterwirkung und verirrten Kugeln waren die Menschen aber geschützt. Zwei solcher Unterstände lagen in Reichweite von Karin und ihrer Mutter: Einer lag ein Stück die Straße hinunter und ein Anderer weiter nach rechts zwischen hohen Eichen verborgen. Karins Mutter entschied sich, mit dem Kind zum linken Unterstand zu laufen. Eile war geboten, denn die ersten Granaten waren bereits in Hellweger Häuser eingeschlagen, wie der Bericht des Schülers zeigt. Ein 16-jähriges Mädchen aus der Nachbarschaft, die häufiger mit der kleinen Karin gespielt hatte, versuchte sich an diesem Tag auch in einen Unterstand zu retten. Noch vor ein paar Tagen war sie für ihren schwer kranken Bruder von Hellwege nach Verden gelaufen, um Penicillin zu organisieren, das in Sottrum nicht mehr zu bekommen war. Mit eigenen Augen bekam sie mit, was am 20. April 1945 geschah.

Auf halber Strecke drehte sich Karin plötzlich um und begann zu schimpfen und zu schreien. Sie wollte wieder nach Hause, vielleicht um ein Kuscheltier zu holen, oder auch weil es ihr dort draußen zu laut und zu unheimlich war. Ihre Mutter aber drängte zur Eile, weil sie wusste, dass nur im Unterstand ein gewisses Maß an Sicherheit bestand. Um die Tochter zu überzeugen, oder auch aus Verzweiflung, ließ sie das Kind kurz los und drehte sich zu ihr um. Dann geschah alles auf einmal: Das hohe Pfeifen des sich nähernden Geschosses verriet noch nicht, wo der Einschlag erfolgen würde, nur dass der Tod plötzlich greifbar war. Es folgte ein ohrenbetäubender Knall –  Steine, Erde und Gras wurden durch die Luft geschleudert, als die britische Granate in unmittelbarer Nähe einschlug. Die Gebäude hatte das Artilleriegeschoss verfehlt, war vermutlich irgendwo zwischen Straße und Vorgärten heruntergekommen. Als es kurz wieder still wurde und sich Staub und Dreck gelegt hatten, eilte das Nachbarsmädchen über die Straße, um nach Mutter und Tochter zu sehen, doch sie kam zu spät. Die meisten Fragmente der Granate schlugen in Bäume, Mauern und den Boden ein, ein Splitter aber flog weiter und traf direkt in Karins Herz. Und ihr Schimpfen, aber auch ihr Lachen starb mit ihr.

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