Eine Lesung über Hochsensitivität und das Ringen um Verständnis

Mit feinen Antennen im Sturm

Petra Maria Keller arbeitet therapeutisch mit hochbegabten und hochsensitiven Menschen. Ihre Erfahrungen hat sie in einem Erzählband verarbeitet.
 ©Gath

Ein harmloser Streit der Eltern – und schon nimmt das Gedankenkarussell Fahrt auf: Der kleine Nickel aus der norddeutschen Tiefebene hört Sätze wie „Jetzt reicht es mir!“ und malt sich aus, dass er seinen Vater bald nur noch in den Ferien sehen wird. Nickel springt aus dem Bett und rennt ohne Pantoffeln über den kalten Holzboden in die Küche. Er stellt sich zwischen die zankenden Eltern. „Papa, ziehst du jetzt aus?“, fragt er.

Die meisten Kinder wären in dieser Situation von den lauten Eltern schlicht genervt und hätten weitergeschlafen, sagt die Autorin und Psychotherapeutin Petra Maria Keller. Doch der Protagonist ihres Erzählbands „Nickel der Norddeutsche“ ist anders. Nickel ist hochsensitiv.

Am Sonntag, 3. November, wird Keller im Eichenhofprojekt in Everinghausen Episoden aus Nickels farbenfrohem, aber oft auch kompliziertem Leben vorlesen. Die Rotenburger Expertin für Hochsensibilität, Manuela Meier, wird die Lesung mit einem Fachvortrag begleiten.

Vor fast einem Jahr veröffentlichte die Therapeutin Keller, die im Eichenhofprojekt lebt und arbeitet, ihr erstes belletristisches Werk im Eigenverlag. In zahlreichen Kurzgeschichten beleuchtet sie darin das Leben des pfiffigen Nickels – und das Zusammenleben mit anderen.

„Kinder bemerken sich nur in der Begegnung mit der Welt“, erklärt Keller. Ein musizierendes Kind einer Musikerfamilie erkenne sein Talent erst, wenn es mit weniger musikalischen Kindern in Kontakt komme. So würden hochsensitive Kinder ihre Eigenheit ebenfalls erst dann wahrnehmen, wenn ihre intensiven Empfindungen und kreativen Gedanken in der Außenwelt auf Unverständnis stoßen.

Dieses Unverständnis könne bei Betroffenen ernsthafte gesundheitliche Probleme verursachen und gesellschaftlich wertvolle Potenziale verschenken, ist Keller überzeugt. Denn Hochsensitivität sei, ebenso wie Neurodiversität – ein Konzept, das Menschen mit ADHS, Autismus, Hochbegabung, Legasthenie und anderen neurologischen Besonderheiten umfasst –, keine Krankheit, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal. Laut Keller seien bis zu 20 Prozent der Bevölkerung hochsensitiv, einige von ihnen entwickeln im Laufe ihrer Biografie jedoch psychische Erkrankungen.

Zu den typischen Merkmalen von Hochsensitivität gehören eine vielschichtige, ungefilterte Wahrnehmung, eine schnelle Reizverarbeitung, komplexes Denken und eine hohe emotionale Berührbarkeit. Wie diese Merkmale zu irrationalen Ängsten führen können, zeigt Nickels Reaktion auf den Streit der Eltern in Kellers Geschichte: „In Nickels Kopf geht sofort eine Riesenkaskade los, und er malt sich komplexe Szenarien aus“, erläutert Keller.

Dabei sei es wichtig, zu verstehen, dass irrationale Ängste reale Ängste seien und ernst genommen werden müssten. Im Buch erklären Nickels Eltern ihrem verunsicherten Sohn, dass Streit unter Erwachsenen genauso normal ist wie unter Kindern.

Andere Eigenarten, wie Nickels ausschließliche Vorliebe für eine bestimmte Eissorte, sollten ebenfalls respektiert und nicht abgewertet werden. Auch wenn sich nicht jede Familienaktivität nach solchen Bedürfnissen richten müsse, würde eine Abwertung dieser Wahrnehmung das Kind verunsichern und ihm das Gefühl geben, falsch zu sein. Kellers Ratschlag – obwohl sie betont, keinen Ratgeber geschrieben zu haben – lautet: „Einen humorvollen Umgang mit solchen Eigenheiten finden.“

Noch mehr Tipps gibt es von Manuela Meier, die die Lesung im Eichenhofprojekt kommentieren wird. In ihrer Rotenburger Praxis berät sie als systemische Beraterin Eltern hochsensitiver Kinder. Schon als Kind hatte Meier selbst das Gefühl, „irgendwie anders“ zu sein: Sie brauchte mehr Zeit für sich und dachte oft, sie sei „auf dem falschen Planeten ausgesetzt“. Doch den Grund für ihre ausgeprägte Wahrnehmung konnte sie erst Jahrzehnte später benennen, als der Begriff Hochsensibilität, der oft, aber nicht immer Synonym zu Hochsensitivität verwendet wird, in ihren Ausbildungen immer häufiger auftauchte.

Hochsensibilität müsse keine Last sein, betont Meier. „Du bist wie ein Seismograf: Du spürst, siehst und hörst mehr als andere“, sagt sie oft zu ihren großen und kleinen Klienten. Hochsensible Menschen hätten oft „feine Antennen“, eine ausgeprägte Empathie, Fantasie und Kreativität, und manche seien sogar hochbegabt. Mit dem richtigen Wissen und Unterstützung könne Hochsensibilität nicht nur verstanden, sondern als Stärke genutzt werden, sagt Meier.

Auch Keller, die sich als Psycho- und Kunsttherapeutin auf die Begleitung von Menschen mit Hochbegabung und Hochsensitivität spezialisiert hat, ist überzeugt: „Die Fülle von Hochbegabten ist eine Riesenchance.“ Deshalb ermutige sie ihre Patienten, deren Depressionen oder Ängste oft mit ihrer Sensitivität verbunden seien, ihre Potenziale zu entdecken. Das Leben sei ein Kunstwerk, und die Menschen sollten sich als Künstler verstehen. „Manche haben eben nur schwarz-weiß als Material zur Verfügung und andere zwanzig Farben und Japanpapier“, sagt Keller und betont: „Beides ist gleich viel wert“ – und sollte auch von der Gesellschaft gleich behandelt werden, selbst wenn manche Eigenarten unkonventionell erscheinen. TOM GATH

Hören

Petra Maria Keller liest am Sonntag, 3. November, ab 15 Uhr aus ihrem Buch „Nickel der Norddeutsche“. Coach Manuela Meier begleitet sie im Eichenhofprojekt, Große Trift 13, 27367 Sottrum-Everinghausen. Ebenfalls am 3. November ab 11 Uhr hält Keller am selben Ort einen Impulsvortrag über zeitgemäße Formen des Umgangs mit Verstorbenen. Nach dem Vortrag ist eine gemeinsame Begehung des Gedenkwaldes auf dem Gelände möglich.

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