Sottrum – Den geliebten Hund, die geliebte Katze in einer bedrohlichen Verfassung auf dem Behandlungstisch beim Tierarzt liegen zu sehen: Für Tierliebhaber ist das kein Anblick, der leicht zu verdauen ist. „Schließlich ist es ein Familienmitglied, und natürlich ist das daher ein emotionaler, stressvoller Moment“, wissen Tierarzt Marco Werhahn Beining von der Klinik für Kleintiere in Sottrum und Henrike Werhahn, Geschäftsführerin des Unternehmens. Doch das solche Augenblicke auch aus dem Ruder laufen können, diese Erfahrung hat das Team der Klinik am vergangenen Silvesterwochenende gemacht.
Denn unter den Patienten, die in die Klinik kommen, sind viele, deren chronische Beschwerden besser in den regulären Sprechzeiten aufgehoben sind. Dazu kommen Anfragen beispielsweise nach Zeckenprophylaxe oder der Gebührenordnung – und da liegt das Problem: Denn für die wirklichen, akuten Notfälle bleibt da kaum noch Raum. Welche Auswüchse das im Extremfall haben kann, darauf machen Marco Werhahn Beining und Henrike Werhahn in einem Facebook-Post und einem Artikel auf dem Internetauftritt der Klinik aufmerksam, nachdem es bei einer Behandlung sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen ist.
„Wir wollen mit diesem Text auf die Gesamtsituation, in der wir uns als Klinik mit Notdienst befinden, aufmerksam machen“, sagt Marco Werhahn Beining. Solche Vorkommnisse, wie die Klinik sie schildert, häufen sich allerdings nicht nur an Feiertagen, sondern generell zu den Notdienstzeiten. Und das betrifft Marco Werhahn Beining zufolge nicht nur die Klinik in Sottrum: „In den vergangenen drei, vier Jahren sind in Niedersachsen viele Kliniken aus dem Notdienst ausgestiegen.“ Das bestätigt Petra Sindern, Tierärztin in Neu Wulmstorf und Vizepräsidentin des Bundesverbands praktizierender Tierärzte. Fälle, wie der in Sottrum, sind längst keine Einzelereignisse mehr. „Da das Arbeitszeitgesetz eingehalten werden muss und flächendeckende Tarifverträge für uns nicht möglich sind, ist es für viele Kliniken nicht leistbar, einen Notdienst einzurichten. Und daran krankt das ganze System.“ Ein weiteres Problem: „Bietet man Notdienste an, ist es nicht leicht, Mitarbeiter zu finden“, sagt Henrike Werhahn. „Es gibt nur eine begrenzte Anzahl an Personal auf dem Arbeitsmarkt“, weiß Sindern. „Daher ist es verständlich, dass sich viele Kliniken aus dem Notdienst zurückziehen.“ Das führt zu einem weiteren Punkt: Mittlerweile nehmen Tierhalter mehrstündige Autofahrten auf sich, um den Notdienst in Anspruch zu nehmen. Entscheidend ist daher auch, dass Tierhalter eine überlegte Einschätzung ihres Tieres vornehmen. Liegt ein Notfall vor oder nicht? „Viel zu viele Tierbesitzer blockieren die Notdienste, auch telefonisch, mit Bagatellfällen“, kritisiert Sindern. „Oft müssen wir daher schon am Telefon triagieren.“ Das erlebt auch Marco Werhahn Beining: „Wenn ein Hund seit Montag Durchfall hat, gehe ich nicht am Wochenende zum Notdienst“, macht der Tierarzt deutlich. „Der Notdienst dient der Erstversorgung im Notfall: Erst einmal das Leid des Tieres minimieren, damit es zum passenden Zeitpunkt weiterbehandelt werden kann.“ Eine Vorselektion über das Telefon ist seitens der Klinik natürlich schwierig, weiß er. Die nehmen dann die Mitarbeiter am Empfang vor. „Das ist wie im Krankenhaus, da gibt es auch Farbcodes“, erklärt der Veterinär. Das bedeutet zugleich unter Umständen lange Wartezeiten für die weniger schweren Fälle – und auch da stößt das Team, wie auch am vergangenen Wochenende, bei Tierhaltern immer wieder auf Unverständnis. „Überwiegend sind alle nett und freundlich, aber es gibt auch Tierhalter, die sich im Ton vergreifen. Es reicht, dass es von 100 einer ist – aber der bleibt im Kopf bei uns hängen“, erklärt Marco Werhahn Beining. „Ganz schnell gibt es obendrein noch eine schlechte Google-Bewertung“, kritisiert Henrike Werhahn. Trauriger „Höhepunkt“ des Wochenendes in der Sottrumer Einrichtung: Einige Tage zuvor ist ein Kater in Behandlung, und schon da hat das Team der Klinik mit der latenten Aggressivität der Besitzerin zu tun. Am Neujahrstag ist sie mit dem Tier beim Notdienst in der Klinik, im Behandlungsraum wird sie dem medizinischen Personal gegenüber handgreiflich. „Dass Menschen sich auch mal im Ton vergreifen, kommt vor. Aber dass wir so angegangen werden, habe ich vorher noch nicht erlebt“, erzählt Marco Werhahn Beining. Mittlerweile geht die Angelegenheit den „offiziellen Weg“, so der Veterinär. „Das wird jetzt an höherer Stelle geklärt.“ Es war dieser Fall, der ihn und seine Kollegin dazu brachte, die Geschehnisse des Feiertagswochenendes öffentlich zu machen. Mit großer Resonanz: Seit Montag ist die Schilderung online und verzeichnet bis Dienstagnachmittag mehr als 700 Reaktionen, fast 1 000 Facebook-User teilten den Post. Mit diesem Schritt will das Team der Kleintierklinik aber auch – und vor allem – an die Tierhalter appellieren, sich die Frage der Dringlichkeit noch genauer zu stellen, achtsamer zu sein und gezielter hinzuschauen. „Tierbesitzer sollten gründlich nachsehen, ob die eventuelle Beschwerde oder die Auffälligkeit wirklich ein Notfall ist“, macht Henrike Werhahn deutlich. „Denn oft denken Leute nicht darüber nach.“ Und diesem Appell schließt sich auch Sindern an. Auch, wenn es einige negative Kommentare im sozialen Netzwerk gibt, überwiegt der Zuspruch – „auch von Kollegen“, freut sich Marco Werhahn Beining. Er und Henrike Werhahn hoffen, auf diesem Weg die Menschen zu sensibilisieren. „Es muss uns keiner um den Hals fallen, aber ein respektvoller Umgang ist für uns selbstverständlich.“