„Des Morgens um die achte Stund‘, da schwirrt‘s und piept‘s im Waldesgrund.
Es packen die Vogelkinderlein
den Ranzen voll und das Frühstück ein. Sie fliegen schnell, man glaubt es kaum, zum Waldschulhaus im Buchenbaum.“ Schleeßel. Als Kind erbat ich mir immer wieder Fritz Baumgartens 1935 herausgegebenes Bilderbuch „Die Waldschule“ zu den Versen von Albert Sixtus. Die ungemein lebendigen Darstellungen verlockten zum intensiven, detailverliebten Betrachten einer vermenschlichten Vogelwelt, deren Alltagsszenen einem vertraut waren: Schabernack im Unterricht, Balgerei in der Pause, lästige Hausaufgaben, Wäsche auf der Leine, und so weiter. Besonders faszinierten mich die Seiten, in denen Szenen aus Musik-, Erdkunde- und Biologieunterricht gezeigt wurden, ließ sich doch daraus entnehmen, wie die Vogelkinder unterrichtet wurden. Liebevoll hatte Baumgarten beispielsweise eine Buchseite mit einer Anschauungskarte gestaltet, auf der diverse Früchte und Blätter zu sehen waren, die Vögeln zur Nahrung dienen konnten. Nicht nur Vogelkinder, sondern auch kleine Kinder lernten auf diese Weise Tannen- und Kiefernzapfen zu unterscheiden, entdeckten Eicheln, die Propeller der Ahornfrucht und vieles andere mehr. Entsprechende Zweige als Anschauungsmaterial auf Schultischen deuteten an, dass schon in Baumgartens Waldschule an praktische Beispiele gedacht wurde. Weithin bekannt ist die Behauptung „Grau ist alle Theorie…“. Fast jeder kann aus seinem unmittelbaren Erfahrungsbereich dazu Beispiele nennen. Ich erinnere noch lebhaft unser Aufatmen, als wir vor dem Rückflug nach einem Familienbesuch in Florida hilflos dem spanisch-amerikanischen Englisch der Lautsprecherdurchsagen ausgeliefert waren und plötzlich, glasklar wie im Englischunterricht „This is British Airway...“ zu hören war – endlich ein Englisch, das sich mit dem deckte, was unsere Lehrkräfte vermittelt hatten. Theorie und Praxis klaffen oft auseinander. Nicht ohne Grund gibt es in Behörden immer wieder Außendienste, in denen vor Ort untersucht wird, woran später im Büro zu arbeiten ist. Dies ist nicht ungewöhnlich. Wird den vielen Legenden über Friedrich den Großen geglaubt, zog es auch ihn während der Jahre seiner Herrschaft ohne Krieg immer wieder weg von Akten dorthin, wo zu überprüfen war, ob vielfältig herausgegebene Befehle in Sachen Wirtschaftssteigerung befolgt wurden: zu Kartoffeläckern, die per sogenannter Kartoffelbefehle angelegt werden mussten, in Maulbeeralleen für die angestrebte preußische Seidenproduktion und manches mehr. Heute muss zwar auch immer mal wieder etwas kontrolliert werden, aktueller ist jedoch, dass es beispielsweise keinen Sinn macht, Gebiete ohne entsprechende Erkundungen unter Schutz zu stellen. Alleen von Maulbeerbäumen dabei anzutreffen ist in unserer Region unwahrscheinlich, nicht nur weil das Gebiet nicht preußisch war, sondern weil Friedrichs Anpflanzungsbefehl für Maulbeerbäume bei Bauern nicht auf Begeisterung stieß. Sie trugen keine Seidenkleidung, hatten nach Ansicht des Königs ohnehin zu grobe Hände für die mühselige Produktion und hackten deshalb bei der erstbesten Gelegenheit die aus ihrer Sicht unsinnigen Bäume wieder ab. Theorie bleibt grau, wenn sie sich als nicht praxistauglich erweist. Die Vogelkinder der Waldschule lernten deshalb Vogelnährgehölze wie Ilex und Eibe nicht nur im Kartenbild kennen, sondern die leuchtend roten Beeren konnten zusätzlich an den bereitgestellten Zweigen erkundet werden. Alle Theorie sei grau, und nur der Wald und die Erfahrung sei grün, das stellte schon vor weit über dreihundert Jahren der Forstwissenschaftler Friedrich Wilhelm Leopold Pfeil fest. Ob das so zutrifft, können Kinder, Naturfreunde und solche, die es werden möchten, in einem grünen Klassenzimmer des Hegerings Sottrum kennenlernen, der gerne Lehrkräfte zur Verfügung stellt. Ein Waldstück lädt ein, etwas über die dort wachsenden Bäume zu erfahren, ein Insektenhotel, zahlreiche Nistkästen und Informationen an einer großen, übersichtlichen Stellwand weisen auf tierische Bewohner und Kontaktmöglichkeiten zum Hegering hin. In der Nähe gibt es neben einem Moor auch geschützte Wallhecken und mit gesetzlich geschützten Biotopen spannende Wundertüten der Natur. Der Jeerbruchgraben bietet wieder ein anderes Stückchen Natur – es gibt eine Menge praktisch zu entdecken und für graue Theorie bietet sich mitten im Wäldchen ein geeigneter Platz an. Das Klassenzimmer der grünen Art liegt an einer Straße, bei der das Befahren mit Kraftfahrzeugen nicht gestattet ist. Wer sich von Clüversborstel aus über die K 204 nach Schleeßel aufmacht, trifft 600 Meter vor dem Ort rechts auf den befestigten Abzweig zum grünen Klassenzimmer. Es gibt einen entsprechenden Hinweis und auch Radfahrer auf der Kräuter-Route der Kräuterregion Wieste-Niederung biegen hier ab. Sie wissen, dass erfahrene Praxis graue Theorie weit hinter sich lässt.