Ulrich Borchert schreibt über sein Leben - Von Nina Baucke

Hände der Hoffnung

Ulrich Borchert hat sein Leben aufgeschrieben. Foto: Nina Baucke
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Ottingen. Die Waggontür öffnet sich einen Spalt, zwei Hände schieben einen Stapel Butterbrote in das Dunkel und sind wieder fort. Wem sie gehören – Ulrich Borchert findet es nie heraus. Er, der 1945 neun Jahre alt und auf der Flucht vor der Roten Armee von Ostpreußen in den Westen ist, weiß nur, dass diese Hände nach einer langen Reise und zwei Tagen des Hungers eines bedeuten: Hoffnung. Heute blickt der Ottinger auf ein 84-jähriges Leben zurück und hat Erinnungen wie diese zwischen zwei Buchdeckeln zusammengetragen.

„Mein Leben. Erinnerungen und Gedanken an neun Jahrzehnte Lebenszeit“ heißt das um die 300 Seiten umfassende Werk, dass Borchert mit einigen Unterbrechungen über fünf Jahre hinweg verfasst hat und das mittlerweile schon die zweite Auflage erlebt. Die handschriftliche Originalversion auf engbeschrieben Blättern füllt einen ganzen Ordner, in den Winkeln etlicher Seiten hat er kleine Anmerkungen und Ergänzungen notiert.

Den Schritt, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen, hatte der Tod seiner Frau ausgelöst, mit der Borchert 60 Jahre lang verheiratet gewesen war. „Ich wollte einfach meine Lebensgeschichte für meine drei Enkeltöchter bewahren. Sie sollen wissen, woher unsere Familie kommt.“ Nicht ohne Grund, denn Borchert ist stolz darauf, dass seine Familie in Ostpreußen tief verwurzelt ist: „Ich kann unsere Chronik bis ins elfte Jahrhundert zurückverfolgen. Es gibt sogar einen Ort südöstlich von Königsberg, den meine Vorfahren gegründet haben, wie auch eine Kirche, aber von ihr sind nur noch Ruinen übrig, ebenso wie von der Burg“, sagt Borchert. „Unsere Familie waren Ordensritter, die dem Deutschen Orden auf der Marienburg unterstellt waren. Später haben sie die Handelsstraße von Königsberg über Warschau nach Moskau in Ordnung gehalten und dort Abgaben verlangt.“

Als er 1935 als jüngerer Sohn im heutigen polnischen Kobulty geboren wird, lebt die Familie auf einem großen Bauernhof, der Großvater ein überzeugter Monarchist, der während der Kaiserherrschaft als Ulan im Heer dient, der 1900 geborene Vater ein studierter Theologe und überzeugter Sozialdemokrat. Seine Mutter stirbt, als er sieben Monate alt ist, der Vater heiratet später wieder. Doch für die Stiefmutter zählt vor allem die eigene Tochter, weniger die beiden Söhne ihres Mannes aus dessen erster Ehe. Es ist der Großvater, der ihn schon als kleinen Steppke auf den Rücken eines Trakheners setzt – ohne Sattel. „Ich konnte gut mit meinem Großvater“, erinnert sich Borchert. Als er mit fünf Jahren in der Krone eines Lindenbaums einschläft und der Vater ihn nach der Suchaktion am Kragen packt, schreitet der Großvater ein: „,Du bist da doch nie oben hochgekommen!‘ hat er zu meinem Vater gesagt“, blickt Borchert mit einem Lachen zurück.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Krieg bereits ausgebrochen, im Januar 1945 sieht Borchert seine Heimat für lange Zeit zum letzten Mal. Er wird Zeuge, wie bei klirrender Kälte die Menschen mit ihren Planwagen über das zugefrorene Haff in die Hafenstädte fliehen, um eines der Schiffe gen Westen zu erreichen, und wie sie im Eis einbrechen. Borcherts Familie schafft es nach Danzig und von dort nach Gotenhafen. Dort wimmelt es von Soldaten auf dem Rückzug, und der Neunjährige packt mit an, als Brotlieferungen für die Feldküche kommen und bekommt als Dank zwei Brote geschenkt, die er seiner Stiefmutter und seinem älteren Bruder bringt. „Er ist immer bei ihr geblieben und war eher der Ängstliche, ich dagegen der Draufgänger“, sagt Borchert. Als sie auf das Schiff wollen, ist es bereits voll. „Ich habe auch so einen Bengel wie dich“, sagt ein Offizier zu ihm – und lässt ihn mit seiner Familie an Bord des hölzernen Minensuchboots.

Auch bei der Weiterreise mit dem Zug bleibt neben der Angst ein weiterer enger Begleiter: der Hunger. „Der Zug fuhr immer nur nachts, tagsüber flohen wir wegen der Tiefflieger in die Wälder, obwohl wir den Zug eigentlich nicht verlassen durften. Ab und zu versorgten uns Sanitäter mit Nahrung und Wasser, aber das hat ja nicht gereicht“, erinnert sich Borchert. In den Waggons ist es eng, es stinkt nach Urin und Erbrochenem.

Zwei Meter von der Tür haben der heutige Ottinger und seine Familie ihren Platz. Immer wieder öffnet er die Tür einen Spalt um etwas frische Luft zu erhaschen. „Und immer schrien sofort welche: Tür zu, es ist kalt.“ Er ergattert Rüben von einem Güterzug, und dann sind da bei einem Halt diese Hände, die ihm die Brote mit Schinken, Wurst und Käse in den Waggon vor die Füße schieben. „Ich weiß nicht mehr, wie oft ich für diese Hände gebetet habe“, sagt Borchert.

Er landet bei einem Bauern im Emsland, wo er im Kuhstall arbeitet und noch im November barfuß laufen muss, ihn Mitschüler in die Mangel nehmen und der Bauer ihn verprügelt und ihn einen „verfluchten Flüchtling“ nennt. „Das war eine böse Zeit“, erinnert er sich. Und der Grund, weswegen das Schreiben darüber sich immer wieder eine emotionale Herausforderung entpuppt. „Da ist viel in mir hochgekommen, ich habe auch viel geweint“, sagt Borchert. „Es war schwer für mich, mich in die Situationen von damals hineinzuversetzen. Aber ich bin froh, dass ich das gemacht habe.“

Auch in Erinnerung an seine Frau Irene: „Die lässt jeden abblitzen“, sagt sein Bruder, als Borchert als 17-Jähriger das ein Jahr jüngere Mädchen, Schneiderin und wie er Flüchtling aus Ostpreußen, an Weihnachten 1952 in der Kirche zum ersten Mal sieht. Er ist da längst Fleischergeselle und kurz davor, bei der Panamalinie anzuheuern. Zwei Jahre später, nach einjähriger Verlobungszeit, heiraten sie. Später vergrößern eine Tochter und ein Sohn die Familie. Sie ziehen nach Bayern und später nach Bad Fallingbostel, Borchert arbeitet in immer größeren Schlachtbetrieben, irgendwann als Abteilungsleiter in einem Betrieb, der zum Tengelmann-Konzern gehört. Er hat auch mal dessen Miteigentümer Erivan Haub am Telefon. „Der war damals neuntreichster Mann der Welt, und ich habe mich durchgesetzt, dass wir bei uns eine neue Maschine bekommen“, erinnert sich Borchert mit Stolz in der Stimme. Und Haub lobt ihn: „Sie sind der einzige Betrieb ohne Fehlcharge.“ In Ottingen schafft sich die Familie ein Zuhause. Mit 64 Jahren geht er nach einem halben Jahrhundert im Beruf in den Ruhestand und geht auf Reisen – Israel, Ägypten, Kanada, das ihn mit all den Seen an Ostpreußen erinnert, und 2013 zum ersten Mal wieder an die Orte seiner Kindheit, kurz bevor er mit dem Schreiben beginnt. Unterstützung bekommt er von Hanna Spiegel, einer Bibliothekarin aus Oranienburg, die das ganze in Reinschrift bringt.

„Nur für die Enkel wäre das zu schade“, hört er von einem Bekannten. Er entschließt sich, seine Memoiren öffentlich zu machen. Im Gegensatz zum emotionalen Schreibprozess kostet ihn das keine Überwindung. „Es ist doch alles menschlich“, sagt Borchert mit einem Lächeln. Vornehmlich sind es Menschen, die wie er aus Ostpreußen kommen, die sein Buch kaufen. Dennoch ist es ihm eine Herzensangelegenheit, dass auch jüngere Generationen mit seinen Erinnerungen beschäftigen. „Die Jugend muss wissen, was wir durchgemacht und wie wir 1945 den Grundstein gelegt haben, damit es unseren Nachkommen besser geht.“

Wer Interesse an dem Buch hat, kann sich telefonisch unter 04262/3151 an Borchert wenden.

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