Ostervesede. Klassentreffen haben was – zu schnell nach einem Auseinandergehen angesetzt, ist das Interesse meistens nicht gerade überwältigend. Vergeht aber ausreichend Zeit, wird es spannender: Stille entwickeln sich zu Überfliegern, schulische Überflieger landen im Alltagsgeschäft dort, wo sich Nicht-Überflieger ebenfalls tummeln. So war es auch in meiner Klasse, und unser erstes Treffen nach zehn Jahren war ausgefüllt mit Erzählungen, was so alles in der abgelaufenen Zeit passierte.
Unvergessen für mich die Erlebnisse meiner Schulbank-Nachbarin von damals, die es als junge Lehrkraft an die Westküste Schleswig-Holsteins verschlug. Gleich zu Beginn ihres Lehrerinnendaseins verbrachte sie mit einer dritten Klasse zwei Unterrichtswochen in einem Schullandheim an der Nordseeküste. Zu der Zeit wurden Projektwochen nicht am Schulort durchgeführt, sondern in Einrichtungen, die engagierte Elternvereine hergerichtet hatten. Meine Banknachbarin bezog also mit ihrer Klasse und begleitenden Eltern, die sich um die Selbstversorgung im Heim kümmerten, einen für Schülergruppen umgebauten Marschhof, umgeben von Entwässerungsgräben. Gleich nach der Ankunft, die Mehrbettenzimmer waren bezogen, der Klasse eine kurze Freizeit auf dem Hofgelände erlaubt worden, damit die Erwachsenen während der Hofaufsicht abklärten, wie der Rest des Tages bewältigt werden sollte, stürzte eine aufgeregte Mädchengruppe herbei: Die Jungen seien mit einem Baum in einen Graben gefallen! Was war geschehen? Das Gelände des Schullandheimes war entlang der Abzugsgräben von alten Kopfweiden begleitet. Die bizarr aussehenden Bäume verlockten Mutige natürlich zum Klettern, um Ängstliche zu imponieren. Dumm nur, wenn künstlich erzeugte Baumkronen dem Ansturm übermütiger Kräfte wenig entgegenzusetzen haben. Und so gab ein mürber Ast nach, die heldenhaften Bezwinger des Baumes landeten in dem flachen Wasser des Grabens und ihre nasse Kleidung im Trockenraum. Kopfweiden sind Weiden, die es ohne menschlichen Eingriff nicht geben würde. Ihr Stamm wird auf ein bis drei Meter eingekürzt und muss regelmäßig gepflegt werden, denn an der Schnittstelle treibt der verstümmelte Baum mächtig aus. Diese Triebe waren der Grund, weshalb Weiden so zurückgeschnitten wurden, denn sie lieferten biegsame Ruten, die bei Fachwerkhäusern in Verbindung mit Lehm einzelne Gefache ausfüllten. Solche Wandteile sind beispielsweise am Hofschafstall bei Thölkes Hus in Höperhöfen zu sehen. Hervorragend eignete sich das Material aber auch zum Verarbeiten für Gebrauchsgegenstände wie Körbe oder Flechtmöbel. Die bis heute beliebten Strandkörbe entstanden ursprünglich unter Verwendung von Weidenruten. Um biegsame Ruten zu erhalten, wurden die Zweige alle drei Jahre wieder zurückgeschnitten. Diese Maßnahme förderte, dass sich der oberste Stammabschnitt verdickte. Er bildete einen Kopf. Da Weiden-äste aber auch als Stiele für Werkzeug oder Pfosten für Weidenzäune in Betracht kamen, erfolgte ein Rückschnitt, der wohl eher Zurücksägen war, in diesem Fall erst nach zehn Jahren. Kritisch wird es, wenn sich der Pflegezeitraum bei Kopfweiden mit ausgeprägterem Kopf auf mehr als 15 Jahre verlängert, weil die immer dicker werdenden Äste die Statik des kopflastigen Baums so verändern können, dass er auseinanderbricht. Einer Kopfweide macht das weniger aus, als vermutet, führt jedoch zu dem bizarren Aussehen manch ehrwürdiger Exemplare und ist eine Chance für zahlreiche Tierarten, die in den häufig hohlen Stämmen Unterschlupf und Nistmöglichkeiten finden. Dieser wichtige ökologische Wert in unserer aufgeräumten Landschaft ist es, der dazu führt, dass Kopfweiden aus Naturschutzgründen auch heute noch gepflegt werden, obwohl sie wirtschaftlich kaum zu nutzen sind. Weidenkörbchen werden eher erworben als selber aus heimischen Ruten hergestellt. Aber wegen der ökologischen Bedeutung gibt es gelegentlich sogar Weiden-Neupflanzungen für spätere Kopfweiden als Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen für Bauvorhaben. Tipp: Kopfweiden sind nicht mehr so häufig im Rotenburger Südkreis an zugänglicher Stelle zu bewundern. Aber ein sehenswertes Beispiel findet sich im Scheeßeler Gemeindegebiet. Wer von Westervesede aus über die K 211 nach Ostervesede kommt, beachte die Baumreihe auf der rechten Seite vor Ortsbeginn. Auf den Fotos zeigen sich die Kopfweiden vor und nach dem „Frisör-Besuch“.