VON MATTHIAS RÖHRS

Depression: Täuschende Zahlen

Von Depression Betroffene wollen oder bekommen nicht immer Hilfe. Die niedrige Prävalenz im Landkreis Rotenburg kann darüber hinwegtäuschen.  ©Imago Images

Der AOK-Gesundheitsatlas weist für den Landkreis Rotenburg die bundesweit drittniedrigste Depressionsprävalenz aus. Die Einordnung zeigt: Was zunächst vielleicht nach einer guten Nachricht klingt, kann ein Indikator für strukturelle Probleme sein.

Rotenburg – Depression ist längst eine Volkskrankheit. Rund 9,49 Millionen Menschen in Deutschland leiden darunter, 13 800 von ihnen leben im Landkreis Rotenburg. Das hat der „Gesundheitsatlas Deutschland“ des Wissenschaftlichen Instituts der AOK vor Kurzem für das Jahr 2022 bekannt gegeben. 12,5 Prozent der Bevölkerung bundesweit sind demnach betroffen – ein neuer Höchststand. Rotenburg steht mit einer Prävalenz von rund 9,2 Prozent ganz unten in der Statistik, nur in Heidelberg (8,4) und im Kreis Waldshut (8,9) an der Grenze zur Schweiz sind im Schnitt weniger erkrankt.

Was bedeutet das jetzt? „Eine Insel der Glückseligen ist Rotenburg damit natürlich nicht“, stellt Heike Friedewald von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention fest. Sie bestätigt im Grunde das, was mehrere Fachleute aus der Region, die sich jedoch nicht offiziell gegenüber dieser Zeitung äußern möchten, und andere Gesprächspartner vermuten: Depression kommt im Landkreis Rotenburg wahrscheinlich nicht viel weniger vor als in anderen Regionen, sie wird nur seltener diagnostiziert. Die Prävalenz von 9,2 Prozent kann also täuschen.

Um noch die anderen Ausreißer der Statistik zu nennen: Auf Ebene der 400 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland hat Offenbach am Main mit 17,7 Prozent die höchste Prävalenz, gefolgt von Nürnberg (16,6) und Remscheid bei Wuppertal (16,4) – ein deutlicher Unterschied zum Landkreis Rotenburg. Das Risiko, an Depression zu erkranken, lässt sich allerdings nur sehr schwer oder gar nicht auf den Wohnort zurückführen.

Auf Nachfrage kann das Wissenschaftliche Institut der AOK kaum erklären, warum die Menschen an Wümme und Oste anscheinend weniger anfällig für Depressionen sind. Ein wichtiger Punkt fällt dabei schon mal aus: Größeres Risiko einer Erkrankung tragen zum Beispiel Frauen und ältere Menschen. Im Landkreis seien die in diesem Punkt bereinigten Werte – im „fairen Vergleich der Regionen“ – aber genauso wie die tatsächlich vorhandenen Werte. Möglich sei, dass Risikofaktoren einer Erkrankung seltener vorliegen. „Für Rückenschmerzen und Angststörungen – beides Erkrankungen, für die ein Zusammenhang mit der Depressionshäufigkeit besteht – liegen die Werte im Landkreis Rotenburg ebenfalls auf sehr niedrigem Niveau“, so AOK-Sprecherin Mareike Horn.

Richtig valide Rückschlüsse auf die Region lassen sich durch den Gesundheitsatlas nicht ziehen, darauf weisen auch seine Initiatoren hin. „Die Erklärungsansätze sind sehr limitiert, weil man von einer multifaktoriellen Krankheitsentstehung im Sinne einer Wechselwirkung aus biologischen und psychosozialen Faktoren ausgehen muss“, erläutert Horn. Für sehr viele Risikofaktoren – zum Beispiel traumatische Lebensereignisse, Einsamkeit, Stress, chronische Erkrankungen und Stoffwechselstörungen – würden keine Erkenntnisse vorliegen. „Daher lassen sich die regionalen Unterschiede nicht erklären.“

Der Gesundheitsatlas stellt ohnehin ein Stadt-Land-Gefälle bei Depression fest. Sie wird demnach in Metropolen und größeren Städten häufiger diagnostiziert als im ländlichen Raum. Ein Erklärungsansatz ist, dass man in einer traditionell geprägten, ländlichen Region anders mit einer möglichen Erkrankung umgeht als in einem Stadtviertel, wo eine Depression weniger stigmatisiert sein mag, so Heike Friedewald von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. „Nicht jeder Erkrankte bittet um Hilfe.“ Häufig würden sich Erkrankte nicht trauen, sich an einen Arzt oder einen Therapeuten zu wenden. Mareike Horn von der AOK schränkt ein: „Die Siedlungsstruktur ist natürlich kein direkt kausaler Faktor für die Entstehung von Depressionen. Hier spielen vermutlich sehr viele Faktoren eine Rolle.“

Friedewalds Ansatz zur Erklärung der regionalen Unterschiede im Atlas: „Wie wahrscheinlich ist die Verfügbarkeit einer Diagnose?“ Das betreffe sowohl Facharzt-Dichte als auch Wartezeiten. Im Landkreis Rotenburg warten Betroffene laut Kassenärztlicher Vereinigung Niedersachsen (KVN) etwa sechs Monate auf einen Therapieplatz.

Damit liegt Rotenburg im Landesdurchschnitt, erläutert KVN-Sprecher Detlef Haffke. Aber tatsächlich liege die rechtlich definierte Landkreis-Versorgungsquote in diesem Bereich bei 118 Prozent. „Die Wartezeiten sind sehr lang, aber uns sind die Hände gebunden.“ Dass diese Rechenmodelle an der Wirklichkeit vorbeigehen können, wisse man auch bei der KVN.

Übrigens: Der „Morbiditäts- und Sozialatlas“ der Krankenkasse Barmer spricht von einer Depressionsprävalenz von 9,5 Prozent für den Landkreis Rotenburg. Der DAK-Gesundheitsreport ist nicht direkt mit dem Atlas vergleichbar, sagt aber aus, dass die Anzahl der durch psychische Erkrankungen verursachten Fehltage im „Land zwischen Elbe und Weser“ – eine Bezeichnung der Krankenkasse für die Kreise Rotenburg, Stade (Depressionsprävalenz laut AOK Gesundheitsatlas: 10,9), Osterholz (12,8) und Cuxhaven (10,4) – deutlich höher seien als in den meisten ausgewerteten Regionen Niedersachsens. Die psychisch bedingten Fehltage hätten 2023 mit rund 387 Tagen je 100 Versicherte auch um 11,3 Prozent höher als 2022 gelegen.

Auch wenn der AOK-Gesundheitsatlas viele Fragen nicht beantwortet, lässt er doch einige Rückschlüsse zu. Aus Sicht der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention ist er dennoch ein gutes Instrument, das Thema durch Zahlen greifbarer zu machen. Was sie aussagen, sei laut Sprecherin Friedewald eine andere Frage. „Zusammenfassend ist die Thematik sehr komplex – und der Gesundheitsatlas kann leider keine Antworten auf diese Fragen geben“, so Mareike Horn von der AOK. Aber ein Ziel der Publikation sei es eben auch, genau solche Fragen aufzuwerfen, auf Unterschiede aufmerksam zu machen und Informationen zur Erkrankung zu liefern. Um dazu beizutragen, dass die Stigmata, die immer noch mit psychischen Erkrankungen verbundenen sind, in der Gesellschaft zukünftig abgebaut werden.