Systemrelevant und unsichtbar: Corona-Krise zeigt die Doppelmoral gegenüber Migrantinnen und Migranten

Kurzer Applaus wiegt schlechte Arbeitsbedingungen und Diskriminierung nicht auf.
 ©Ashlee Rezin Garcia/Chicago Sun-

Die Corona-Krise zeigt, wie wichtig migrantische Arbeitskräfte für systemrelevante Berufe sind. In einem Video fordern sie nun Respekt statt Applaus.

  • Die Corona-Krise* macht deutlich, wie viele Arbeitskräfte „systemrelevant“ sind
  • Gerade in systemrelevanten Berufen arbeiten viele migrantische Arbeitskräfte
  • In einem Video verschaffen sich die Frauen und Männer nun Gehör 

Sie ist also endlich geschehen, die Sache, die ihr am meisten fürchtet. Etwas ist aus dem Ausland gekommen, hat euch eure Jobs genommen und die Straßen unsicher gemacht“ - mit diesen Worten beginnt das Video, das Mitte April von Großbritannien aus über soziale Netzwerke um die Welt ging.

Die Sätze: eine Anspielung auf rassistische Ressentiments, mit denen Politiker ihre Brexit-Kampagne angeheizt haben. Doch im Video sprechen keine Politiker, sondern Krankenschwestern, Ärzte, Lehrerinnen und Lieferfahrer. Sie alle gelten in der Corona-Krise als „Key Workers“ – als „Schlüsselarbeiter“. Und es sind Menschen, die allzu oft selbst Ziel der rassistischen Angriffe waren. Sie haben dunkle Haut, Afrolocken oder tragen Hijab.

Migrantinnen arbeiten in systemrelevanten Berufen - Auch nach der Corona-Krise sollen sie sichtbar bleiben

Der äußere Feind - so die Botschaft - sind nicht sie. Es ist das Coronavirus, und all jene, die im Video zu sehen sind, kämpfen gegen es. „You Clap for Me Now“, zu deutsch: „Jetzt klatscht ihr für mich“ - so lautet der Titel des Videos. Es ist eine Anklage gegen die Doppelstandards, die viele im Land anlegen, wenn es um Migranten oder Briten mit Einwanderungsgeschichte geht: An der Corona-Front bekommen sie kurz Applaus, im Alltag gelten sie vielen als Schmarotzer, Kriminelle, Eindringlinge.

Weltweit haben Millionen Menschen das Video gesehen und geteilt. Offensichtlich hat es einen Nerv getroffen. Denn in der Krise hat sich deutlicher denn je gezeigt, wie sehr die westlichen Industriestaaten auf die Arbeitskraft von Migrantinnen und Migranten angewiesen sind - und wie oft sie diese Arbeit weder anerkennen noch angemessen entlohnen. Das gilt auch für Deutschland.

Video: Migrantinnen und Migranten in systemrelevanten Berufen klagen Doppelmoral in der Corona-Krise an

Viele Bereiche, die jetzt als systemrelevant gelten, wären ohne Arbeitsmigration aufgeschmissen. In der Landwirtschaft, dem Transportwesen oder Teilen der Lebensmittelindustrie haben 20 bis 40 Prozent der Arbeitskräfte keinen deutschen Pass. Und im Jahr 2018 kam laut einer Statistik der Bundesärztekammer schon jeder achte Arzt und jede achte Ärztin aus dem Ausland, die meisten aus Rumänien und Syrien. Wie viele mehr von ihnen Deutsche mit Migrationsgeschichte sind, lässt sich nur schätzen.

Und dann gibt es jene Jobs, die derart ausbeuterische Arbeitsbedingungen und Bezahlung bieten, dass praktisch keine Deutschen bereit sind, sie zu tun. Ob Spargelstecher oder sogenannte „24-Stunden-Pflegerinnen“: Ihre Arbeit in Deutschland bekam erst dann plötzliche Aufmerksamkeit, als wegen Grenzschließungen und Reisebeschränkungen ihr Fernbleiben drohte. Zofia Jankowska (Name geändert) ist eine dieser unsichtbaren Systemerhalterinnen: Die Polin arbeitet seit 2011 in Deutschland in der häuslichen Pflege - so wie geschätzt 300 000 bis 500 000 Frauen und Männer aus Ost- und Südosteuropa. Aktuell betreut sie im Auftrag eines großen kirchlichen Wohlfahrtsverbands eine 62-Jährige Frau, die nach einem Schlaganfall rund um die Uhr pflegebedürftig ist. Allerdings: „Pflegerin“ darf sich Jankowska nicht nennen. Offiziell ist sie eine Haushaltshilfe - wie überhaupt alles an ihrem Beruf in einem Graubereich stattfindet. Laut Arbeitsvertrag arbeitet sie 38,5 Stunden. In der Realität seien es eher 50 bis 55, nicht mitgerechnet die Zeit in der sie schläft - in Bereitschaft. Ihr Nettolohn beträgt 1200 Euro. Einen nicht geringen Anteil an dem, was die Familie der pflegebedürftigen Frau für die Betreuung bezahlt, streicht eine Vermittlungsagentur ein, die nach Ansicht Jankowskas fürs „Nichtstun“ bezahlt werde. Auch nach acht Jahren macht sie die Ungerechtigkeit wütend: Sie kenne Kolleginnen, die wie Leibeigene behandelt oder rassistisch beleidigt würden, sagt sie. „Würde all das bei deutschen Arbeitern akzeptiert werden?“

Systemrelevante Arbeitskräfte wünschen sich bessere Behandlung nach Corona-Krise

Das Gefühl der Rechtlosigkeit hat sich in der Corona-Krise noch verschärft. Als Deutschland die Grenzen schloss, war Jankowska in Polen. Ihr deutscher Arbeitgeber teilte ihr per Email mit, dass ihre Abwesenheit als unbezahlter Urlaub betrachtet würde. Auf eigene Kosten und zu einem Zeitpunkt als noch niemand wusste, wie sich die Corona-Pandemie weiter entwickelt würde, reiste sie mit einer Sondergenehmigung als Berufspendlerin zurück. Möglich war das, weil die Bundesregierung eiligst Ausnahmeregelung für die Einreise von Saisonarbeitskräften erlassen hatte – um einen Notstand in der häuslichen Pflege und anderen Bereichen zu verhindern. Der Großteil von Jankowskas Kolleginnen konnte nicht einmal das tun – geschätzte 90 Prozent der Betreuerinnen arbeiten illegal in Deutschland.

In einem Interview sagte Sachini Imbuldeniya, die Produzentin des „You Clap for Me Now“-Videos, sie wünsche sich, dass die britische Bevölkerung, nach der Krise nicht zu alten rassistischen Mustern zurückkehre . Zofia Jankowska sagt, sie wäre schon froh, wenn deutsche Arbeits- und Bürgerrechte auch dann geachtet würden, wenn es um ausländische Arbeitskräfte gehe.

Von Alicia Lindhoff

Italien will Hunderttausenden Migranten Arbeitserlaubnisse erteilen. Damit soll auch eine neue Corona-Ausbreitung verhindert werden*.

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