Ich war zum Kriegsende fünf Jahre alt. Meine Erinnerungen sind nicht zusammenhängend, sondern nur einzelne Begebenheiten. Meine Mutter war mit uns Kindern, meinem zwei Jahre jüngeren Bruder und mir nach den ersten Bombenangriffen 1943 aus Hamburg zu Großonkel und Großtante nach Droyßig in Sachsen-Anhalt gezogen. Das liegt in der Nähe von Zeitz (südlich von Leipzig). Onkel und Tante hatten dort etwa drei Kilometer vom Dorf entfernt, oben auf dem Berg mit Blick auf die Eisenbahn und den Ort Wetterzeube eine Obstweinschänke "Zum Einsiedler" erbaut. Wir bewohnten in ihrem Haus eine kleine Wohnung im zweiten Stock.
Für kurze Zeit muss dort die Front gewesen sein. Ich kann mich an ein brennendes Flugzeug erinnern, das in den nahegelegenen Wald stürzte. Es muss sich um einen der letzten Kriegstage gehandelt haben, denn meine Tante und meine Mutter gingen, nachdem sich die deutsche Front zurückgezogen hatte, in den Wald, um nach Lebensmitteln zu suchen, die die deutschen Soldaten zurückgelassen hatten. Unter anderem brachten sie eine würfelförmige Blechdose mit Pralinen mit. Mir wurde später erzählt, dass die 16- und 17-jährige Soldaten statt Zigaretten Pralinen bekamen. (Diese Dose wurde noch viele Jahre, wieder zurück in Hamburg, als Keksdose für die Weihnachtsbäckerei benutzt). Bei einem dieser Streifzüge fanden sie einen am Hals verwundeten Jungen (Soldaten), brachten ihn mit und ließen ihn heimlich von einem Arzt versorgen. Er wurde gesund gepflegt und versteckt. Als die Amerikaner kamen, ich vermute der Krieg war nun zuende, wurden wir alle in den Keller gesperrt und das Haus durchsucht. Was an Wertsachen interessant war, nahmen die Soldaten mit. Nicht lange danach kamen die Russen, sperrten uns wieder in den Keller und nahmen mit was sie brauchen konnten. Fortan waren lange Zeit am Waldrand Richtung Droyßig Panzer zu sehen. Der Weinkeller meines Onkels wurde beschlagnahmt. Der Ausschank wurde ihm verboten. Einmal wurde mein Onkel in seinem Hof von russischen Soldaten verprügelt, weil er keinen Wein ausgeben wollte. Der Vorgesetzte kam zum Glück darüber zu. Solange die Russen dort am Wald standen, ging meine Mutter nicht mehr ins Dorf zum Einkaufen. Unser großes Glück war, dass die Tante uns einen Teil ihres Gartens überließ. Wir hatten also Gemüse und Kartoffeln. Von den Stoppelfeldern ringsum sammelten wir Kinder Getreideähren. Die Körner wurden mit der Kaffeemühle gemahlen. Aus dem Schrot kochte meine Mutter eine Grütze, die mit selbstgemachtem Sirup gesüßt wurde. Außerdem wurde daraus falsche Leberwurst hergestellt, indem der Brei mit Salz und Majoran gewürzt wurde. Im Herbst 1946 kam mein Vater aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück und wir gingen gemeinsam mit ihm nach Hamburg. Jeder von uns bekam einen Rucksack mit dem Nötigsten und wir marschierten zu Fuß von der russischen in die amerikanische Besatzungszone. Ich erinnere mich, dass wir über ein Stoppelfeld liefen. Mein Bruder wurde mehr gezogen als dass er lief. Wir hatten selbstgemachte Holzsandalen an, durch die uns die Stoppeln stachen. Plötzlich kam uns ein bewaffneter russischer Soldat entgegen. Er fragte etwas, wir konnten ihn nicht verstehen. Er zeigte auf unsere Rucksäcke. Mein Vater redete mit Händen und Füßen, ich hörte immer wieder das Wort nix. Schließlich durften wir weiter gehen. Unsere erste Nacht verbrachten wir im Flüchtlingslager, ich glaube es hieß Marienborn. Dort gab es dreistöckige Etagenbetten und wir Kinder bekamen zum ersten Mal wieder eine Milchsuppe. Sie schmeckte himmlisch! In Hamburg angekommen konnten wir nach wenigen Wochen wieder in unsere alte Wohnung einziehen, da das Haus Gott sei Dank stehen geblieben war. Außer den Sachen in unseren Rucksäcken hatten wir aber nichts. Mein Vater konnte zum Glück bei seiner alten Firma wieder arbeiten, zuerst allerdings in der Fabrik, später auch wieder im Büro. Aus Kisten und Nesselresten von der Firma entstand unsere Wohnungeeinrichtung. Irgendwann gelang es meinen Eltern, es war nur kurze Zeit möglich, ihren Hausstand komplett von der Speditionsfirma Hahn nach Hamburg holen zu lassen. Wir Kinder hielten auf dem Balkon Ausschau. Der Anblick des die Straße heraufkommenden Möbelwagens und unser Gebrüll: "Er kommt!" ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Nach dem Krieg... ... lebte Helga Wassermann zunächst in Hamburg. Als Lehrerin fand sie jeweils eine Anstellung in Jesteburg und in Schenefeld, im Februar 1984 unterrichtete sie dann an der Grund- und Hauptschule in Lauenbrück. Später betreute sie die ersten bis vierten Klassen in der Außenstelle in Helvesiek. "Ich habe einige meiner Erlebnisse an die Schüler weitergegeben und den Krieg zum Thema gemacht. Denn ich finde, dass unsere Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten darf." Wassermanns Liebe zum Land, die sie schon in ihrer Kindheit entdeckt hatte, wurde nach ihrer Heirat im Jahr 1963 verstärkt. Durch die gemeinsame Leidenschaft - das Motorsegelfliegen - lernte sie die Samtgemeinde Fintel kennen und schätzen. 1976 baute die Familie, die eine Tochter und einen Sohn auf die Welt brachte und aufzog, ein Haus in Stemmen. Sieben Jahre später wurde das ursprünglich als Alterswohnsitz gedachte Heim endgültig zum neuen Zuhause von Helga Wassermann. "Seit 1983 wohne ich jetzt in Stemmen. Ich finde es wunderschön hier und würde nie wieder wegwollen." In ihrer Freizeit macht die 65-Jährige gerne ausgiebige Radwandertouren oder geht tanzen. Zudem singt sie in der Rotenburger Stadtkantorei. Viel Aufmerksamkeit gilt auch ihren Haustieren (Katzen, Hühner, Kaninchen) und ihrem Garten. Wenn sie verreist, steht oft ein Besuch in Zeitz und Umgebung auf dem Plan. "Die Kontakte zu Bekannten aus der Region sind immer noch gut. Meine Besuche sind zwar seit dem Mauerfall nicht mehr so regelmäßig, aber ich versuche, so oft ich kann, dort hin zu fahren."