Physiotherapie für Pferde: Mehr als "nur" die Behandlung gesundheitlicher Probleme

Was du nicht willst, das man dir tu ...

Aua! Filia, die sechsjährige Hannoveranerin, wirft den Kopf hoch und drückt den Rücken weg. Die Schmerzreaktion fällt deutlich aus, doch ein Wunder ist das nicht: Tina (eigentlich: Ellen Bettina) Wolff kennt die Zipperlein, die manche Pferde plagen. Während sie beruhigend auf die Stute einredet, streicht sie ihr mit den flachen Händen über den Körper, zieht dann die Fingerkuppen beiderseits der Wirbelsäule entlang. Das ist Filia so unangenehm, dass sie versucht, dem Druck auszuweichen. "Abhauen" nennt die Physiotherapeutin dies Verhalten, das auf eine Verspannung hindeutet. Woher die kommen kann? "Wir sollten uns mal den Sattel ansehen", tippt Tina Wolff.

Seit etwa einem Jahr lebt und arbeitet die 28-Jährige in Scheeßel. Menschen mit Bandscheibenvorfällen, Meniskusschäden oder anderen gesundheitlichen Problemen wieder auf die Beine zu bringen, ist ihr alltäglicher Job in einer örtlichen Praxis für Krankengymnastik. Erst nach Feierabend wechseln ihre Patienten: Dann widmet sie sich Pferden, die unter Beeinträchtigungen des Bewegungsapparats leiden. Und das kommt gar nicht so selten vor. Für Tina Wolff ein klarer Fall: "Wenn ich stundenlang einen schweren Rucksack schleppen muss, tun mir ja auch die Schultern weh." Pferde signalisieren solche Schmerzen durch Lahmheiten, Taktfehler und Steifheit - aber auch durch "unerklärliche" Widersetzlichkeiten. Durchgehen, Buckeln, Kopfschlagen - all das sind oft Symptome für körperliches Unwohlsein. "Leider fehlt vielen Reitern diese Erkenntnis", sagt Tina Wolff. "Statt nach den Ursachen zu suchen, bestrafen sie ihr Pferd und machen alles nur noch schlimmer." Filia, die Hannoveranerin, ist unterdessen gesattelt worden. Die Stute hat ein beachtliches Stockmaß von über 1,70 Meter, doch damit hat Tina Wolff keine Schwierigkeiten: Die Frau überragt das Pferd um Haupteslänge. Dass sie nicht gerade klein und außerdem sportlich durchtrainiert ist, kommt ihr bei der Arbeit sehr zu pass: So kann sie energisch zupacken, wenn’s mal vonnöten ist. Bei Filia muss das nicht sein: Die Stute genießt ganz offensichtlich die Zuwendung, die ihr zuteil wird. In Sachen Sattel gibt’s auch Entwarnung: Der liegt gut, ist passend gepolstert und gibt der Wirbelsäule genügend Bewegungsfreiheit. Tina Wolff ist zwar keine Sattlerin - aber ein Urteil kann sie dennoch abgeben. "Das gehörte zum Unterrichtsstoff", berichtet sie - "genauso wie Lektionen mit Tierärzten und Hufschmieden." Gleich nach ihrer dreijährigen Ausbildung und dem Examen als Physiotherapeutin war für sie klar, dass sie weiter lernen wollte. Denn in der Zwischenzeit hatte sie mit dem Reiten begonnen - "und eigentlich wusste ich schon immer, dass ich gerne einen Beruf mit Tieren gehabt hätte." Sich für die Behandlung von Pferden fortbilden zu lassen, war darum der nächste logische Schritt. Am Deutschen Institut für Pferdeosteopathie (DIPO) in Dülmen belegte sie eine Reihe von Kursen, die mit Prüfung und Zertifizierung abschlossen. Dieses Zeugnis ist wichtig, weil die Berufsbezeichnung "Pferde-Osteotherapeut/-physiopraktiker" in Deutschland nicht gesetzlich geschützt ist und selbst ernannte Therapeuten freie Hand haben. "Am DIPO werden deshalb nur approbierte Ärzte und Tierärzte sowie diplomierte Physiotherapeuten ausgebildet", berichtet Tina Wolff. Wird die Scheeßelerin zu einem vierbeinigen Patienten gerufen, steht zunächst eine eingehende Befragung des Besitzers auf dem Programm. "Oft ergibt sich schon in diesem Gespräch der erste Ansatz, wo das Problem zu suchen ist", sagt sie. Eine eingehende Befunderhebung folgt: Hat das Pferd auffällige Merkmale der äußeren Erscheinung? In welchem Spannungszustand befinden sich die Muskeln? Gibt es Unregelmäßigkeiten in Gangart und Bewegung? Genaues Hinsehen und das folgende, gründliche Abtasten aller Körperteile liefern die nötigen Hinweise. Bei Filia bleibt das Ergebnis der Untersuchung ganz un-dramatisch: Zwar hat die Stute eine Schmerzreaktion gezeigt, doch glaubt Tina Wolff nicht an ein wirkliches Problem. Schließlich wird die Sechsjährige nach einer längeren Weidepause gerade erst wieder antrainiert. "Da kann’s schon mal Muskelkater geben", beruhigt die Physiotherapeutin und rät zu weiterer schonender Aufbauarbeit. Der Reiterin gibt sie ein paar Tipps mit auf den Weg, wie sie das Training unter dem Sattel durch einfache Übungen im Stall unterstützen kann: Die Fingerkuppen mit etwas Druck mitten unter dem Pferdebauch entlang ziehen - schon wölbt Filia die Wirbelsäule auf. Das stärkt die langen Rückenmuskeln. Und die haben’s nötig, sollen sie doch das gesamte Reitergewicht aufnehmen und dabei auch noch entspannt schwingen. "Regelmäßig beim Putzen und vor dem Satteln angewandt, dauert die Übung nur wenige Minuten und hat doch einen großen Effekt", weiß Tina Wolff. Anderen Reitern und Besitzern zeigt sie, wie sie Dehnungsübungen mit ihrem Pferd machen können oder wie einzelne Gelenke auf einfache Weise zu mobilisieren sind. "Ohne großen Aufwand kann jeder dazu beitragen, die Konstitution seines Pferdes zu verbessern, es länger gesund zu erhalten und seine Leistungsfähigkeit zu steigern", betont Tina Wolff. Deshalb ärgert sie sich über Leute, die ihre Bemühungen schulterzuckend abtun. Einfach weil sie nicht umdenken mögen. Dabei, meint die Fachfrau, wäre eine andere Perspektive im Blick auf den vierbeinigen Sportpartner in vielen Fällen dringend nötig. Und ein wenig Selbstkritik ebenso. "Kann der Reiter denn auch, was er von seinem Pferd ganz selbstverständlich verlangt? Ist er auf beiden Seiten gleich belastbar, gleich stark? Kann er sich dehnen und biegen?" Berechtigte Fragen. "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu", zitiert Tina Wolff. Und entlässt Filia, die Hannoveranerin, mit einem Klaps auf die Weide. - Die Stute darf sich ab sofort auf ein paar ungewohnte neue Lektionen beim täglichen Training freuen ... Gabriele Marienhagen

28.02.2021

Landpark Lauenbrück

12.02.2021

Winterlandschaft in Rotenburg

22.12.2020

Weihnachtsbilder

29.10.2020

Herbstfotos der Leser

Seitenanfang