Beide befinden sich im Ruhestand und beide halten nichts davon, die Tage ungenutzt an sich vorüberziehen zu lassen: Ingeborg Helms (72), Architektin aus Stade und Rüdiger Bruns (69), Leitender Schulamtsdirektor aus Fintel. Helms und Bruns hatten vor gar nicht so langer Zeit ein prägendes Erlebnis: Sie gingen, jeder für sich, auf dem historischen Jakobs-Pilgerweg bis Santiago de Compostela. Das Pilgern, eine uralte, fast vergessene Form, um auf dem stillen Weg mit sich und seinen Gedanken allein zu sein, bekam in den 70er Jahren einen unerwarteten Auftrieb und wurde immer populärer. Der Wunsch einer außer Atem geratenen Welt, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen?
Ingeborg Helms, stellvertretende Vorsitzende der Region Norddeutschland der Deutschen St.-Jakobus-Gesellschaft mit Sitz in Aachen, ist von ihrer Aufgabe, Pilgerwege einzurichten, fasziniert. An diesem April-Wochenende ist sie auf dem Weg nach Bremen zur Mitgliederversammlung ihres ständig wachsenden Vereins. Zu den Themen, die beraten werden, gehört unter anderem die Herausgabe eines weiteren Pilgerführers für die Strecke von Lübeck bis Bremen. Außerdem wird die Staderin über ihre Arbeit an einem weiteren Pilgerweg von Lübeck nach Göttingen über Lüneburg, Celle, Hannover, Hildesheim und Bad Gandersheim berichten, der Ende August fertig sein soll. Zu den von ihr bereits eingerichteten Wegen gehört der "Soroptimistweg“ von Itzehoe über Stade nach Bremen mitten durch den Landkreis Rotenburg, entlang dem schnurgeraden Napoleonsweg über Wense, Heeslingen, Offensen, Zeven, Oldendorf, Steinfeld, Winkeldorf, Benkel, Stapel, Narthauen und weiter nach Otterstedt und Fischerhude. Umfangreiche und mühselige Archivarbeit ist grundsätzlich Voraussetzung dafür, damit Pilgerwege wieder auf alten Routen verlaufen können. Und wo dieser Wunsch nach historischer Authentizität, aus welchen Gründen auch immer, nicht eins zu eins umzusetzen ist, geht es doch noch darum, sich so weit wie möglich an die geschichtliche Wahrheit anzulehnen. Etwa zwei Jahre dauert es, bis Ingeborg Helms, unterstützt von Freunden, einen Pilgerweg fertiggestellt hat. Die Gemeinden verlangen nämlich eine "Ausschilderungsgenehmigung“, manche Behörden sogar einen genauen Plan. Die Genehmigung kann sich über Monate hinziehen. Dabei geht es schlicht und einfach um die Erlaubnis für das Aufkleben eines blauen Kunststoffquadrates mit der Jakobsmuschel und dem Hinweis "Pilgerweg“. Im Landkreis Rotenburg, schwärmt die 72-Jährige, sei sie vom Touristikverband Tourow und seinem Geschäftsführer Udo Fischer ausgezeichnet unterstützt worden. Hier habe man erkannt, wie unterstützend die Pilgerweg-Bewegung für den Fremdenverkehr sein könne. Das Netz der Pilgerwege wird immer engmaschiger. Helms: "Jeder möchte möglichst an seiner Haustür losgehen können.“ Warum der Name "Soroptimistweg“? Die Soroptimistinnen sind ein Netzwerk für berufstätige Frauen mit gesellschaftspolitischem Engagement, die die Pilgerbewegung unterstützen. Vizepräsidentin in Norddeutschland ist Ingeborg Helms. Die rastlose Architektin, braungebrannt und faltenlos, hat mit Rüdiger Bruns einen idealen Gesprächspartner gefunden. Nach fünf Minuten plaudern die beiden wie alte Bekannte. Keine Frage: pilgern verbindet. Und zwar noch intensiver, wenn die Gründe, den weiten Weg nach Spanien zu wählen, ähnlich oder identisch waren. Doch warum pilgert man? "Das Pilgern“, antwortet Rüdiger Bruns, der seinen 3.300 Kilometer langen Weg nach Santiago de Compostela in den Jahren 2007 und 2008 zurücklegte, "bedeutet für mich ein Ankommen bei sich selbst und unserem Schöpfer und seiner Schöpfung näher zu sein.“ Ingeborg Helms war vor fünf Jahren losgegangen, um die unzähligen Kunstkleinode zu sehen, die der Weg nach Spanien bereit hält. "Das Andere“, Spirituelle, sei ganz langsam von allein gekommen. Und dann lässt sie den Gesprächspartner ein wenig weiter an sich heran: "Durch das Pilgern habe ich ein unglaubliches Selbstbewusstsein gewonnen. Ich war in meinen Beruf verbohrt und habe ihn für den Mittelpunkt der Welt gehalten.“ Für die beiden drahtigen Jakobs-Enthusiasten, die inzwischen mit ihren Enkeln auf kürzeren Strecken trainieren, ist Pilgern alles andere als spazierengehen mit Rucksack. Sie, die dafür sind, möglichst allein unterwegs zu sein, haben unterwegs gelernt, anderen Menschen zuzuhören. Bruns: "Beim Pilgern lernt man, Geduld mit sich selbst zu haben. Und man muss seine Füße pflegen. Man muss nicht jeden Tag 40 Kilometer gehen.“ – Helms weiß: "Man kommt zu einem ursprünglicheren Leben. Man muss nicht alles mitnehmen, weil man im Rucksack nicht alles tragen kann.“ Ingeborg Helms und Rüdiger Bruns verabschieden sich nach zwei Stunden angeregter Unterhaltung. Für immer? Oder fügt es der Zufall, dass Bruns irgendwann und irgendwo auf einer erneuten Pilgertour nach Santiago de Compostela die sympathische Staderin trifft?