Wenn Joachim Schoen in seinen alten Fotos wühlt, dann fällt ihm so mancher Pfiff und manch kuriose Begebenheit ein – beispielsweise, dass es Paul Breitner war, für den er erstmals den gelben Karton aus der Hemdtasche zog. Jahrzehntelang war Schoen als Schieds- und Linienrichter auf dem Rasen heimisch, auch in der Bundesliga. Und dabei brachte er es auf ein Jubiläum der besonderen Art: Ein halbes Jahrhundert sorgte der Mulmshorner mit Pfeife und Fahne für Recht und Ordnung auf den Fußballplätzen.
Die alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die Schoen zu Hause auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet hat, sind echte Hingucker. Und für ihn hängen daran eine Menge Erinnerungen. Dass er einmal mit den großen Fußballstars auflaufen würde, deutete sich in jungen Jahren dabei nicht mal an. 1937 wurde Schoen in Wilhelmshaven geboren, später folgte der Umzug der Familie nach Bad Segeberg. Dort kämpfte er übrigens bei den bekannten Karl-May-Festspielen an der Seite von Winnetou und Old Shatterhand. „Wenn er nicht die Schiedsrichter-Laufbahn eingeschlagen hätte, dann wäre er Schauspieler geworden“, äußerte daher ein Freund einmal augenzwinkernd. Doch es kam anders. „Erst einmal eine Molkereilehre“, berichtet Schoen. Später ging er zur Bundeswehr nach Niedermendig und landete schließlich in der Rotenburger Lent-Kaserne. Von 1965 bis 1996 arbeitete er in der Molkerei der Wümmestadt, anschließend in der in Elsdorf. Und seit 2000 genießt der zweifache Vater (seine Frau hat er in der Molkerei kennengelernt, 1971 wurde in Mulmshorn gebaut) die Rente. Doch wie kam er zum Sport? „Bei der Bundeswehr hatte ich einen Kumpel, der gern 800 Meter lief“, erinnert sich Schoen, der damals auch intensiv mit der Leichtathletik begann – jedoch gleich mit Strecken von 5.000 und 10.000 Metern. Gemeinsam mit dem Freund wurde geübt, noch vor dem 6-Uhr-Frühstück. Und so wurde die Leistung besser und besser. „1965 – das war mein erfolgreichstes Jahr“, so Schoen. Damals schlug der Titel Bremer Landesmeister über 10.000 Meter zu Buche, zudem ein dritter Platz bei den Norddeutschen Meisterschaften sowie der zwölfte Rang bei den Deutschen Meisterschaften. Und was ist mit Fußball? „Habe ich nie so richtig gespielt. Da war ich auf dem Platz eher Komparse“, erinnert sich Schoen lachend an seine sporadischen Kicker-Einsätze. Dafür aber begleitete er als 25-Jähriger 1963 einen Kumpel zu einem Schiedsrichter-Lehrgang und nahm dann selbst daran teil. Und er hatte ein Händchen dafür, denn die theoretische Prüfung ergab: „Ich wurde Lehrgangsbester.“ So ging’s als Schiri auf den Platz. Doch Schoen zweifelte gleich zu Beginn an sich selbst, denn bei einem Lokalderby in der zweiten Kreisklasse zwischen Scheeßel und Lauenbrück war nicht nur er mit sich unzufrieden, sondern ebenso beide Teams. „Was hast Du da denn gepfiffen, das habe ich mich damals gefragt“, berichtet Schoen. Doch er ließ sich nicht entmutigen. Die richtige Entscheidung, denn aufgrund guter Leistungen bekam er bereits eineinhalb Jahre später Einsätze in der Bezirksliga. Und als im Herbst 1965 kurzfristig ein Schiri ausfiel, gelang Schoen der Sprung auf den Rasen der Verbandsliga. Ein Fortbildungslehrgang in Barsinghausen folgte – wieder wurde Schoen Bester, was Theorie und Laufvermögen angeht. Und 1970 führte sein Weg schließlich bis in die Regionalliga Nord. „Dort pfiff ich in meiner Laufbahn 50 Spiele“, erklärt er. Schließlich der Sprung, auf den wohl alle Schiris hoffen: Schoen schaffte es ab der Saison 1971/72 auf die DFB-Liste, auf der die 108 Besten vermerkt sind – ein großer Erfolg. Oft war Schoen an den Wochenenden unterwegs („Meine Frau war sehr verständnisvoll“), zunächst als Linienrichter in der ersten Fußball-Bundesliga – los ging es mit Kaiserslautern gegen Duisburg. Hauptschiedsrichter damals: Gerhard Schulenburg, dem Schoen zur Seite stand. „Und ich war mit mir zufrieden“, sagt der Mulmshorner im Rückblick. In verschiedenen Schiri-Gespannen kam Schoen zum Einsatz. „Ich habe alle Städte abgegrast“, erinnert er sich. Und während er in der ersten Liga immer wieder an der Linie aktiv war, kam er auch wieder an die Pfeife – nämlich ab 1974/75 in der Zweiten Liga Nord. Mehr als 40 Partien bestritt er dort bis 1981 als Schiedsrichter, eine rote Karte packte er aus. „Dann war dort aus Altersgründen Schluss“, so Schoen, der sich mit Blick auf die heutigen Zahlungen an Schiris an seine Entlohnung erinnert: 24 Mark pro Tag an den Einsatzwochenenden (von Freitag bis Sonntag, also maximal 72 Mark), dazu acht pro nachgewiesenem Trainingstag. An welche Spiele er sich besonders erinnert? Beispielsweise ans DFB-Endspiel in den 70er-Jahren, bei dem Netzer sein legendäres Siegtor schoss. Damals gehörte Schoen zwar nur zum Schiri-Ersatzgespann, ein Erlebnis sei das Ganze aber trotzdem gewesen. Genauso wie das Unicef-Spiel Weltauswahl gegen den BVB mit Spielern wie Kevin Keegan und Franz Beckenbauer, bei dem Schoen an der Linie stand. Highlight waren zudem internationale Einsätze als Linienrichter bei Europapokalspielen wie Kopenhagen gegen Zürich und Standard Lüttich gegen Kiew. Und auch in Ägyptens erster Liga kam Schoen zum Einsatz. „Dort hatten die damals nicht genügend eigene Schieds- und Linienrichter zur Hand“, erklärt Schoen. Als für Schoen aus Altersgründen in Liga eins und zwei Schluss war, ging’s für ihn weiter in Verbands-, Bezirks- und Kreisliga. „Schoen wurde langsamer“, lacht der 76-Jährige, wenn er an sein schlechter werdendes Laufvermögen zurückdenkt. Trotzdem blieb er fit genug für Spieleinsätze. Doch in diesem Jahr machte er endgültig Feierabend und pfiff das letzte Spiel nach 50 Jahren. Schoen war damit der dienstälteste Referee im Kreis Rotenburg des niedersächsischen Fußballverbandes. „Was hast Du da für einen Schiet gepfiffen?“, solche Fragen musste sich Schoen auch mal nach Spielen anhören, ließ sich aber nie entmutigen oder verrückt machen. Schlimm seien bei Jugendspielen manches Mal weniger die Spieler als die Eltern gewesen, die den eigenen Nachwuchs ungerecht behandelt gesehen hätten. „Meine Linie war aber immer sauber“, schätzt Schoen seine Partien selbst ein. Elfmeterfreudig sei er generell eigentlich nicht gewesen – obwohl er einmal ein Spiel mit gleich vier Elfern in Verden gehabt habe. Und anfangs erwähnte erste gelbe Karte für Breitner vergisst Schoen nie – im Freundschaftsspiel Osnabrück gegen Bayern München. „Das alles hat viel Spaß gemacht“, erklärt Schoen und daher empfiehlt er jungen Leuten nachdrücklich, die Schiedsrichterlaufbahn einzuschlagen – denn Schiris werden gebraucht. Schoen war mit 25 Jahren Spätzünder, doch sinnvoll sei es, als Jugendlicher einzusteigen. „Denn je länger man am Ende dabei ist, desto besser kommt man auf dem Platz zurecht“, sagt er. Junge Interessierte sollten sich an die Vereine vor Ort wenden – beim Rotenburger SV, so Schoen, werde gute Arbeit geleistet. Und natürlich wirbt Schoen auch für seinen Heimatverein, den Tus Mulmshorn. Was ein guter Schiri braucht? „Selbstsicheres Auftreten, Fingerspitzengefühl, Fitness - und Humor kann auch nicht schaden.“ Der Schiedsrichternachwuchs, appelliert Schoen, müsse generell mehr gefördert werden. Übrigens ist Schoen zwar nicht mehr an der Pfeife, hat sich aber den Schiri-Ausweis doch noch verlängern lassen – um mit dem Schiedsrichterwesen verbunden zu bleiben. Und für welchen Verein schlägt sein Herz? „Mönchengladbach“, sagt er und sieht es gelassen, dass auf dem Nachbargrundstück eine HSV-Fahne weht.