Die Wohnungstür wird geöffnet. Durch eine Brille blicken zwei blaue Augen den Besucher freundlich an. Zu dem Gesicht gehören noch eine kleine Nase, ein blonder Pagenkopf und ein fröhliches Lächeln. Der Gast wird von Melina gleich in Beschlag genommen und ins Wohnzimmer geführt.
Sofort schaffen die Dreijährige und ihre Schwester Mayleen Spielsachen herbei. Mit kräftiger, dunkler Stimme fordert sie: "Spielst Du mit uns?“ Als sie ein Plüschtier streichelt, stechen zunächst ihre sehr langen und dünnen Finger ins Auge, dann der ebenfalls auffällig lange dünne Körper. Melina ist annähernd so groß wie ihre zwei Jahre ältere Schwester. Ein weit geschnittenes Oberteil verbirgt ihren schiefen Körperbau. Melina hat das Marfan-Syndrom. Die Eltern, Melanie (30) und Marcus (40) Harling hatten mit einem gesunden Kind gerechnet. "Schwangerschaft und Geburt verliefen kompliziert“, erinnern beide. "Nach der Entbindung in einem Bremer Krankenhaus war Melina aufgrund Sauerstoffmangels blau. Wohl als Folge eines Ärztestreiks, der seinerzeit stattfand, dauerte es recht lange, bis ein Doktor kam. Wir rechneten bereits mit einem Hirnschaden.“ Als die Krankenschwester und der Busfahrer ihre Tochter endlich in die Arme schließen konnten, fiel ihnen auf, dass ihr Baby außerordentlich groß und dünn war. "Sie sah aus wie ein Äffchen. Die Haut hing in Falten vom Körper und war viel zu groß für ihre 56 Zentimeter. Ihre Finger waren außergewöhnlich dünn und nahezu doppelt so lang wie normal. Sie hatte eine Trichterbrust, eine dunkle, extrem laute Stimme, einen hohen spitzen Gaumen und ein deformiertes Gesicht“, berichtet Melanie. "Wir dachten gleich, da stimmt was nicht“, ergänzt Marcus. Bei der standardmäßigen Untersuchung zwischen dem dritten und zehnten Lebenstag fiel auf, dass die sogenannten Ur-Reflexe nicht vorhanden waren. "Obwohl sie durch die U2 fiel, wurden wir einfach so aus dem Krankenhaus entlassen“, wundert sich die Krankenschwester. Das Wundern ging Zuhause weiter. "Das Kind trank rund um die Uhr, die Verdauung war normal und entsprechend viel. Wir konnten sie förmlich wachsen sehen. Auch die betreuende Hebamme war der Meinung, dass etwas nicht in Ordnung sei.“ Die Familie wusste zu der Zeit noch nicht, dass es spezifisch für Kinder mit dem Marfan-Syndrom ist, schnell zu wachsen. "Die ersten drei Monate schrie sie auffällig viel. Wir tippten auf Wachstumsschmerzen. Auffällig war, dass ihre Kochen - wie bei einem alten Menschen - knackten. Auch die geringe Körperspannung, und dass sie nur den rechten Arm bewegte, beunruhigte uns“, berichten die Eltern. Eine Odyssee von Kinderarzt zu Kinderarzt in verschiedenen Städten begann. Es fiel schon mal die Bemerkung: Die Mutter reagiert über! "Ich fand mich damit ab, meine Tochter weiterhin zu beobachten und mir große Sorgen zu machen“, schildert die Krankenschwester mit belegter Stimme. Glück im Unglück: Bei der ersten Impfung wurde Melina blau und bekam extremes Herzrasen. Darauf folgte eine Überweisung zum Kinderkardiologen Dr. Torsten Nekarda in das Rotenburger Diakoniekrankenhaus. "Etwas Besseres hätte uns nicht passieren können“, unterstreicht die 30-Jährige. "Schon nach dem ersten Blick äußerte Nekarda, dass es sich um das Marfan-Syndrom handeln könnte.“ Nach einer Reihe umfangreicher Untersuchungen mit einer Chromosomenanalyse bestätigte die Bremer Spezialistin für Humangenetik, Dr. Stephanie Spranger, die Diagnose. "Mit einfühlsamen, aber deutlichen Worten erklärte sie mir, was mit Melina los ist. Ich weinte und konnte mich nur schwer beruhigen.“ Melanie schluckt und greift während der Schilderung an den auffällige Anhänger, ihren Talisman an der Halskette. Bei anschließenden genetischen Untersuchungen der Eltern und Schwester wurde kein Marfan festgestellt. "Melina hatte bereits bei der Geburt die typischen Symptome der Krankheit, die andere betroffene Kinder erst im Laufe des Kindergartenalters bis zur Pubertät entwickeln“, berichtet die Krankenschwester. "Im Kindergartenalter fallen Schlaksigkeit und Sehschwäche auf, im Grundschulalter stellen sich Herzgeräusche und Herzklappenfehler ein und in der Pubertät folgen Skoliose und Aneurysmen.“ "Als Melina fünf Monate alt war, bewegte sie sich ab Bauchnabel abwärts immer noch nicht“, schildert die Scheeßelerin. So bekam das Mädchen, das von seinen Eltern Mini genannt wird, Frühförderung in Form von Ergotherapie und Krankengymnastik. "Als Mini sechs Monate alt war entdeckte ich beim Wickeln, dass sie sich nach rechts biegt. Eine Skoliose! Obwohl ich peinlichst darauf geachtet hatte, dass sie nicht sitzt.“ Im Alter von acht Monaten folgte die Brille. "Sie konnte nur linksseitig gucken. Wie bei einem Vögelchen rollte das rechte Auge nach außen weg. Noch heute sind wir ständig in Behandlung, weil eine Netzhautablösung droht. Das würde eine Erblindung bedeuten.“ Mit einem Jahr konnte sie weder krabbeln noch laufen. "Allerdings hat sie gelacht und lautiert“, beschreibt die 30-Jährige. "Mit zwei Jahren, konnte sie frei gehen, was an ein Wunder grenzt. Viele mit dieser Krankheit sitzen im Rollstuhl oder benutzen Stützen.“ Dass dieses gelang, ist dem unermüdlichen Einsatz der Mutter, des Krankengymnasten sowie der Lebenshilfe-Frühförderung zu verdanken. Aufgrund des fehlerhaften Bindegewebes hat Melina eine sehr schwache Muskelspannung. Daraus resultiert eine starke Instabilität des gesamten Körpers. Ein weiteres Problem: Nach Wachstumsschüben vermindert sich der Muskeltonus zusätzlich. "Dann folgen häufig Atembeschwerden, weil sie einfach keine Kraft mehr hat, den Schleim abzuhusten“, sorgt sich die Mutter. "Ich habe bei dieser Krankheit gelernt, dreifach zu denken“, sagt die Krankenschwester. "Jede therapeutische Maßnahme muss gut abgewogen werden. Ein angebotenes Atemgerät, das bei nächtlichen Atemaussetzern eingesetzt wird, habe ich abgelehnt. Es könnte in Melinas Lunge Folgeschäden verursachen. Statt dessen haben wir unter dem Aspekt des Muskeltrainings zehn Wochen lang Atem- und Gesichtsübungen gemacht und sind viel schwimmen gegangen.“ Die Ehe der Harlings hielt diesen Belastungen nicht stand. Dennoch verstehen sich die Beiden bestens und unterstreichen: "Wir sind kein Liebespaar mehr aber immer noch ein Elternpaar.“ Die fünfjährige Mayleen geht großartig mit der Situation um. "Sie ist rücksichtsvoll und versteht, dass ihre Schwester besonderer Fürsorge bedarf – fordert aber auch ihr Recht auf Zuwendung und Aufmerksamkeit ein. Sie ist die beste große Tochter, die man haben kann“, betonen die Eltern. Man spürt Bewunderung und Stolz. Mit Begeisterung besucht Melina den Integrationskindergarten im Sperlingsweg. "Dank Jannik, einem Kind mit Trisomie 21, blüht sie richtig auf“, strahlt Melanie. "Er hat ihr gezeigt, dass sie keine Furcht haben muss.“ Ritterlich führt der Sechsjährige seine Freundin an der Hand zur Ergotherapie. Zur Begrüßung und zum Abschied gehört immer eine Umarmung. Angst ist ein ständiger Begleiter der Harlings. Ihre Jüngste hat Aussackungen (Aneurysmen) an beiden Hauptschlagadern des Herzens. Die Trichterbrust wird bald operiert, weil das Herz nach unten gedrückt wird. Daraus resultiert eine Beeinträchtigung der Atmung. "Es werden noch weitere Operationen folgen müssen. Wie schlimm das alles wird, wissen wir nicht. Wir leben jeden Tag intensiv und genießen den Moment.“ "Der plötzliche Herztod, vergleichbar mit dem plötzlichen Kindstod, ist für uns ständig präsent. Sie könnte jeden Morgen nicht mehr aufwachen. Deshalb sagen wir abends immer: Gute Nacht und auf Wiedersehen.“ __________________________________________ Marfan-Syndrom Im Februar 1896 beschrieb der französische Kinderarzt Antonin-Bernard-Jean Marfan die skelettalen Besonderheiten eines fünfjährigen Mädchens. Dieses gilt als die Erstbeschreibung des Marfan-Syndroms und gab der Krankheit den Namen. MFS ist eine genetisch bedingte Bindegewebs-Erkrankung. Ein Baustein des Bindegewebes, das Fibrillin (ein Eiweiß des Kollagens), wird von Körperzellen fehlerhaft gebildet. Dies führt zu einer ausgeprägten Instabilität und verminderten Elastizität aller Bindegewebe des Körpers. Unerkannt kann die Krankheit zum plötzlichen Tode führen. Leider bleibt sie in vielen Fällen unentdeckt. Bis heute ist das Syndrom unheilbar und nur begrenzt behandelbar. Merkmale: - Aortenaneurysmen (Herz-, Gefäßveränderungen, die unvermittelt platzen können) - Veränderungen an der Wirbelsäule (beispielsweise Skoliose) - Trichter- oder Kielbrust - überlange Gliedmaßen und große Körperlänge (typisches Merkmal: Spinnengliedrigkeit) - Kurzsichtigkeit - Netzhautablösung - unerklärliche Müdigkeit - überdehnbare Gelenke - schmaler Kiefer mit schief stehenden Zähnen MFS ist eine seltene Erkrankung und tritt mit einer Häufigkeit von etwa 1 zu 10.000 auf. Die Vererbung erfolgt dominant. Es gibt daher bei jeder Schwangerschaft ein 50-prozentiges Risiko, die Krankheit weiter zu vererben, wenn eines der Elternteile betroffen ist. Bei ungefähr einem Drittel der Betroffenen entsteht das Syndrom spontan, ohne dass die Eltern erkrankt sind. Der Grund dafür ist unbekannt. Eine Studie aus den 70-er Jahren besagt, dass die Lebenserwartung eines Menschen mit Marfan rund nur 30 bis 40 Jahre beträgt. Heute entspricht - bei frühzeitiger Diagnose und optimaler medikamentöser und chirurgischer Behandlung - die Lebenserwartung annähernd der Normalbevölkerung. Weitere Information gibt es auf der Internetseite der Deutschen Marfanhilfe unter www.marfan.de