Mathieu beschritt den Jakobspfad und wurde für die künstlerische Umsetzung ausgezeichnet - Von Andreas Schultz

Strich für Strich: Wie lang ist ein Weg?

Maria Mathieu bei der Arbeit am 16. Teil der Serie Wie lang ist ein Weg. Ein ein Zentimeter langer Strich wird neben den nächsten gesetzt u2013 langwierige mechanische Arbeit für die Kunst Foto: Schultz ©Rotenburger Rundschau

Wer eine Reise auf dem Jakobsweg plant, informiert sich vorher über die Gegebenheiten. Welches Wetter habe ich zu erwarten? Wie sollte meine Ausrüstung aussehen? Wie voll könnten die Herbergen werden? Solche und andere Fragen gehen dem vorausschauenden Planer durch den Kopf – aber es geht auch anders. Die Sottrumerin Maria Mathieu hat sich eines Teils des wohl bekanntesten Pilgerpfades angenommen, 860 Kilometer zu Fuß bewältigt und hinterher begonnen, diese Reise künstlerisch zu verarbeiten. Die Odyssee lohnte sich: Ein Teil ihres daraus entstandenen Werkes wurde kürzlich von der Leuphana-Universität in Lüneburg mit einer Auszeichnung des Daniel-Frese-Preises gewürdigt.

Mathieu ist heute 65 Jahre jung, lebt seit 18 Jahren in einem Waldgebiet in Sottrum-Fährhof und hat sich die Kunst zu eigen gemacht. Zur Malerei hat sie „nicht den Zugang gefunden“, dafür zeichnet sie und beschäftigt sich mit Installationen und Druckgrafik. Oft geht es dabei eher abstrakt zu, doch der Mutter zweier Kinder ist das sehr bewusst: „Das ist alles immer schräg“, gibt sie mit Blick auf ihre unterschiedlichen Darstellungsweisen der Jeanne d’Arc, auf die Grafik von Wildschweinen mit Verbandskästen und auf eine Installation mit Schafsschädeln an der Leine lächelnd zu. Die Anregungen für ihre künstlerischen Werke holt sich die Verheiratete aus Erlebnissen, die sie geprägt haben. Aus ihrer Wanderung auf dem Pilgerpfad, die Sie im Oktober 2006 ganz spontan anging, zehrt sie noch heute. So entstand beispielsweise ihre Serie Wie lang ist ein Weg. Sie besteht aus Zeichnungen, inzwischen 16, allesamt geschaffen aus etwa einen Zentimeter langen Strichen, die in Reihe nebeneinander gestellt die Schritte der Künstlerin auf dem Jakobsweg symbolisieren. Jeder Schritt der etwa 860 Kilometer langen Strecke kommt dabei zur Darstellung – ein Mammutprojekt. Das zeichnerische Konzept zu Wie lang ist ein Weg Nummer 16 brachte ihr an der Lüneburger Leuphaner-Universität schließlich eine Auszeichnung im Rahmen der Verleihung des Daniel-Frese-Preises für zeitgenössische Kunst ein – für die Jury war das Werk ein „anerkennenswertes zeichnerisches Konzept“ im Rahmen des Wettbewerbs, bei dem es um das Thema Kunst und Leidenschaft ging. Dem ersten Platz aus Einsendungen, die aus den elf Landkreisen um Lüneburg kommen, darunter der Landkreis Rotenburg, winkt die Verwirklichung des eingereichten Konzeptes in der Halle für Kunst Lüneburg. Andere Einreichungen von hoher künstlerischer Qualität – so wie die von Mathieu – werden mit einer Auszeichnung gewürdigt, deren Wert für Kunstschaffende nicht mit Gold aufzuwiegen ist, denn am Ende steht die Vernetzung. Und zwar nicht irgendeine, sondern die mit der New Yorker Art Agenda. Die entsprechende Webseite (www.art-agenda.com) wird weltweit von namhaften Künstlern angesteuert, daher freut sich Mathieu darüber besonders: „Das ist mal eine Gelegenheit, über den heimischen Tellerrand hinauszukommen, das schafft man sonst ja nicht.“ Dass sie dadurch auch mit vielen Kuratoren und Kunstvereinen in Kontakt kommt, sei ebenfalls viel wert. Doch welche Geschichte steckt hinter der Auszeichnung, dem Kunstwerk, der endlosen Aneinanderreihung von schwarzen Strichen auf weißem Papier? Ehe Maria Mathieu sich nach Frankreich aufmachte, ehe sie überhaupt anfing, Kunst zu studieren, schrieb sie Sachbücher und zog zwei Kinder groß. Wenn es nicht gerade darum ging, mit Büchern wie Geburtenratgebern etwas Geld zu verdienen, setzte sie sich mit Lyrik und Prosa auseinander. Mit 54 wagte Mathieu dann den Sprung von der Schriftstellerei zur bildenden Kunst und begann ein Studium an der Hochschule für Künste in Bremen. „Ich bewundere den Mut meiner damaligen Professoren, mich in dem Alter überhaupt noch für das Studium zuzulassen“, sagt die Künstlerin und lacht. Die Zeit schritt voran und nach einem Auslandssemester an der École des Beaux-Arts in Toulouse war bald die Diplomarbeit fällig. Mathieu packte ohne große vorherige Recherche ihren Reiserucksack und machte sich auf den Weg der Wege, den Jakobsweg, um im Winter die Teilstrecke von Marseille nach Lourdes zu bewältigen. Schon vorher war ihr bewusst, dass einige Dinge fehlen werden. Eine Karte packte sie nicht ein: „Ich dachte etwas naiv ‚Da gibt’s ja diesen Weg’. Und sportlich war ich auch nicht. Das Unternehmen war also eine Herausforderung.“ Was die Sottrumerin damals nicht wusste: Die Pilgersaison war zum Zeitpunkt ihrer Reise längst vorbei. An den Schlafstätten rechnete also keiner damit, dass tatsächlich noch jemand kommen könnte, um sich von seiner Tagesreise auszuruhen. Oft musste sie erst darauf warten, dass jemand die Schlafräume am Abend aufschließt. Jedoch verlor keiner ein Wort über das Ende der Saison, denn „die Leute waren viel zu höflich“, um einen entsprechenden Hinweis zu geben. Mathieu wunderte sich zwar, doch die Erleuchtung kam ihr erst nach einer ganzen Strecke als sie bei einem Kloster in Montpellier Unterschlupf fand. Bei einem Blick in das dortige Gästebuch las sie in einem Eintrag eines deutschen Paares, das gegen Saisonende auf dem Jakobsweg unterwegs war, die Worte „Wir sind die letzten“. Da dämmerte es ihr, warum kaum ein anderer den Pfad beschritt. „Wenn ich vorher gewusst hätte, was mich erwartet, hätte ich das gar nicht erst angepackt. Fünfeinhalb Wochen war ich praktisch komplett allein. Zuerst war es schrecklich, man hat bei Zeiten auch Angst, aber hinterher war es okay. Ohne Partner zu wandern ist halt schon etwas anderes“, resümiert Mathieu, doch bereut habe sie die Erfahrung dennoch nicht. Jeden Morgen überlegte die Studentin beim Aufstehen, ob es nicht besser wäre, einfach in den Zug zu steigen und das Vorhaben damit abzublasen. Doch sie hielt durch: 860 Kilometer legte sie in 46 Tagesetappen bei Wind und Wetter zurück und notierte dabei jeden Tag die zurückgelegten Kilometer und die Zeit, die sie mit dem Gehen verbrachte. „Das war ein eindrückliches Erlebnis und guter Stoff für die Kunst“, erklärt Mathieu. Für die später entstehende Serie Wie lang ist ein Weg sollte das von großer Bedeutung sein. Der erste Teil, Gegenstand ihrer Diplomarbeit, besteht aus einem zehn Meter langen und etwa ein Meter breitem Streifen Leinwand, auf dem sich die Striche zunächst dicht an dicht und später (weiter links) immer lockerer aneinander reihen. Was lässt sich dort erkennen? Ist es nur die Erschöpfung des Reisenden, die sich einer einfachen schematischen Darstellung beugt, oder gibt es mehr, etwa ein Bild, zu sehen? Maria Mathieu hält sich bei Interpretationshilfen bedeckt. Entscheidend sei, welche Wirkung beim Betrachter eintrete, was er dabei denke. Sie will nichts vorgeben, was die Wahrnehmung beschränken könnte. Natürlich verursache das Denkarbeit, aber um die ginge es ja auch. „Es geht um die Umsetzung des Erlebten. Als Künstler verschachtelt man zwar immer, aber am Ende ist doch immer etwas eigenes dabei“, gibt sie dann doch noch als Tipp. Derzeit arbeitet die Künstlerin an dem 16. Teil der Serie, der einem ähnlichen Darstellungsverfahren folgt, nur dass es sich um 46 Papierstreifen (pro Tagesetappe einen) handelt. Jeden Tag malt Mathieu Striche auf Papier, sechs Stunden lang, jede Stunde 50 Minuten plus 10 Minuten Pause. „Da halte ich mich auch strikt dran und nutze auch immer den gleichen Stift“, verrät die Künstlerin, die eisern ihrem Arbeitsplan folgt. Bei dem ersten Teil der Serie hielt sie den Schaffensprozess auf CD fest: Das Kratzen des Stiftes auf dem Papier und die Bewegung des Unterarmes beim Weiterrücken erzeugen Geräusche, die der Betrachter später in der Ausstellung wahrnehmen kann, während er das Werk vor sich hat. 19 Datenträger füllten die Arbeitsgeräusche. Vier der 46 Wandertage hat Mathieu bereits zeichnerisch im sechzehnten Teil der Serie umgesetzt. „Die Reise ist allerdings künstlerisch noch lange nicht ausgeschöpft“, gibt Mathieu mit einem Lächeln an. Eine Übersicht über die Werke der Künstlerin ist über www.mariamathieu.de abrufbar.