"Als wir in den Tunnel gingen, begannen die Franzosen ihre Nationalhymne zu singen. Genau zu dem Zeitpunkt, als wir aus dem Tunnel kamen, waren sie fertig und dann öffnete sich der Blick auf das Olympiastadion mit 80.000 Zuschauern. Das war schon gigantisch“, erinnert sich Matthias Alpers an die Abschlussfeier der Paralympics in London. Der Zevener nahm als Bogenschütze teil und hat dem Sport viel zu verdanken.
Bis Alpers den einen Kilometer langen Weg zum Stadion, auf dem die vielen Helfer der Paralympics für die Athleten Spalier standen, antreten konnte, mussten spannende Wettkämpfe und die Vorbereitung absolviert werden. Vor elf Jahren kam es zu einem Einschnitt in Alpers Leben – er fiel von einer Leiter. "Nach dem Unfall ging es mir jahrelang schlecht. Ich hatte einen Hirnschaden, meine rechte Seite war gelähmt, ich hatte ständig Kopfschmerzen und war kaum belastbar. Die Ärzte konnten mir aber nicht sagen, was los war“, so Alpers, der seitdem berufsunfähig ist. Sieben Jahre nach dem Unfall, bei einer simplen Operation am Ohr, kam die Diagnose: Der Zevener hatte bei dem Sturz einen offenen Schädelbasisbruch erlitten. Als Laie sieht man ihm heute nicht an, dass er immer noch mit den Folgen des Sturzes im Jahr 2001 zu tun hat. "Trainer erkennen aber sofort, was mit mir los ist. Meine Wirbelsäule ist kaputt, ich habe kein Gefühl im rechten Arm und mein Gleichgewichtssinn ist geschädigt“, so Alpers. Sieben Jahre später begann Alpers auf Drängen seines 15-jährigen Sohnes Finn wieder mit dem Bogensport – quasi als Reha-Maßnahme. Schnell waren seine Ergebnisse aber so gut, dass er den Traum von olympischem Edelmetall verfolgen konnte ("Olympisches Gold in Zeven?“, www.rotenburger-rundschau .de). Schon im Januar sagte der Spitzensportler im Gespräch mit der Rundschau, er freue sich auf die Teilnahme bei dem Großereignis in London. Wie groß die Paralympics aber wirklich sind, das erfuhr Alpers erst, als er tatsächlich an der Themse war. "Die heiße Phase begann für mich Mitte August in Mainz, wo die deutsche Mannschaft für die Paralympics eingekleidet wurde“, sagt der Bogenschütze. Danach steigerte sich die Vorfreude immer mehr, denn kurz darauf konnte Alpers schon hautnah erleben, wie es Olympia-Helden geht. Er war in Hamburg dabei, als die Stars der Spiele, die einige Wochen vor den Paralympics stattfanden, mit dem Kreuzfahrtschiff Deutschland in Hamburg eintrafen und wurde zusammen mit weiteren anwesenden Paraolympioniken im Rahmen des Bühnenprogramms den vielen Sportfans in der Hansestadt vorgestellt. "Die Gewinner hatten natürlich alle ihre Medaillen dabei. Ich habe mir aber geschworen, dass die erste olympische Medaille, die ich berühre, meine eigene ist. Das habe ich geschafft – ich habe in Hamburg keine angefasst. Allerdings auch bei den Paralympics nicht“, berichtet Alpers von seinem Aberglauben. Zwei Wochen nach den olypischen und eine Woche vor den paralympischen Spielen reiste der Zevener in London an. Erst an diesem Tag wurde ihm bewusst, Teil welcher Großveranstaltung er damit war: "Wir sind mit Bussen vom Flughafen ins olympische Dorf gebracht worden. Drumherum befand sich ein Hochsicherheitszaun, dann kam der Bus in eine Schleuse, wurde von Soldaten untersucht und als wir Sportler ausstiegen, mussten auch wir durch eine Sicherheitsschleuse – das wurde dann mein tägliches Ritual.“ Aber nicht nur die Sicherheitsmaßnahmen waren wie die am Flughafen in XXL – auch das Essen in der Mensa war alles andere als schmal bemessen. "McDonalds und Coca Cola waren die Sponsoren“, sagt Alpers schmunzelnd, fügt aber gleich hinzu, dass es auch Essen gab, dass für Sportler geeigneter ist. "Da gab es wirklich alles: europäische Küche, asiatische, afrikanische, britische – und die war mit die beste“, schwärmt Alpers, der sich, während er noch am Wettbewerb teilnahm, an die europäischen Gerichte gehalten hat, danach aber alles probieren wollte. "Ich habe nie in meinem Leben soviel Essen weggeschmissen wir dort, weil selbst die Probierportionen zu groß waren“, sagt Alpers und fügt nachdenklich hinzu: "Das war wie im Schlaraffenland. Ich weiß nicht, wie das Sportlern vorgekommen sein muss, die aus Ländern kommen, in denen es nicht soviel zu essen gibt wie bei uns.“ Und sportlich? Da machte Alpers die Erfahrung, dass bereits im Training mit allen Mitteln versucht wird, den Kontrahenten in die Defensive zu bringen. "Mit psychologischen Spielchen will man den Gegner beeindrucken, zeigen was man kann. Zu mir kam zum Beispiel Timur Tuchinov, der spätere Goldmedaillengewinner, hat auf meine Scheibe drei Pfeile geschossen und ist wieder gegangen. Danach bin ich zu seiner Scheibe, habe das gleiche gemacht. Zumindest dort habe ich gegen ihn gewonnen“, sagt Alpers lächelnd. Die psychologischen Spielchen wurden in der Qualifikationsrunde weitergespielt. Diese stellte den Zevener gleich vor eine große Herausforderung. Das wechselhafte Wetter machte dem 44-Jährigen zu schaffen, weil er durch seine Einschränkung eine Konzentrationsschwäche hat. Aber das war nur ein Problem. Das nächste war eines, das es so nur im Bogensport geben kann, wo die Pfeile im Ziel nicht elektronisch sondern von den Sportlern selbst – bei den Paralympics wahlweise auch von den Trainern – herausgezogen und gezählt werden. "Es wurde immer zu dritt auf eine Scheibe geschossen. Zum Werten der Treffer gingen ich und die Trainer meiner Gegner zur Scheibe, ich wollte die Wertung übernehmen, aber keiner der Trainer. Damit wollten sie mich aus dem Konzept bringen. Als sich, nachdem ich zu einem Kampfrichter gegangen bin, einer der Trainer bereiterklärte, die Wertung mit durchzuführen, hat er ständig für seinen Schützling falsche Zahlen genannt. Das sind solche Spielchen...“, sagt der Weltklassesportler. Trotz der widrigen Umstände erreichte Alpers in der Qualifikation Rang acht und war damit direkt für das Achtelfinale qualifiziert – was im Nachhinein gesehen vielleicht sogar ein Nachteil war. Wer nämlich in der Qualifikation nicht zu den besten Acht gehörte, der musste zwei Tage darauf im Sechzehntelfinale antreten, um sich für das Achtelfinale, für das Alpers bereits qualifiziert war, zu bewerben. "Das Sechzehntelfinale war zwei Stunden vor dem Achtelfinale. Diejenigen, die dort schon angetreten sind, kannten das Gefühl bereits und waren bereits im Wettkampf. Es ist nämlich erstaunlich, dass von denjenigen, die in der Qualifikationsrunde unter den ersten Acht waren, nur zwei weitergekommen sind. Das wäre mal eine Aufgabe für einen Sportpsychologen“, sagt Alpers, der aber keine Ausflüchte oder Rechtfertigungen für sein Ausscheiden sucht. Seine Begründung dafür ist so simpel wie einleuchtend: "Der andere war einfach besser. Das habe ich sportlich gesehen. Ich habe alles gegeben, es war ein knappes Ergebnis.“ Und der andere war Oleg Shestakov, der später die Silbermedaille gewann. "Als ich abends niemanden hatte, mit dem ich sprechen konnte, begann ich aber doch noch, mich schlecht zu fühlen. Heute ärgere ich mich schon noch darüber, dass ich ausgeschieden bin – aber nicht über meine Leistung an sich“, berichtet Alpers. Allein war er auch, weil seine Frau Vera nicht mit nach London kommen konnte – wegen der drei Kinder Finn (15 Jahre), Mailin (acht) und Laurin (vier). Nach seinem Ausscheiden war der Zevener nur noch Tourist und Sportfan. Er besuchte die Bogen-Finals und wenn er von Sportarten wie Rollstuhl-Basketball und Rollstuhl-Rugby berichtet, ist ihm die Begeisterung für die Leistung der Athleten deutlich anzusehen. Beeindruckt ist Alpers auch davon, dass in England olympische und paralympische Sportler nahezu gleich behandelt werden. Welchen Stellenwert die Paralympics gerade in England haben wurde an den Zuschauerzahlen deutlich – nahezu alle Wettbewerbe waren ausverkauft und auch Alpers konnte erstmals in der Finalrunde vor rund 4.000 Zuschauern sein Können zeigen. "Bisher habe ich nicht vor mehr als 1.000 Zuschauern geschossen.“ Ihn freut, dass auch in Deutschland die paralympischen Athleten immer mehr respektiert werden. "Wir bekommen langsam ein Selbstverständnis als eigenständige Sportler. Insofern muss ich meine Aussage von vor einigen Monaten revidieren, dass olympische und paralympische Spiele gleichzeitig stattfinden sollten. Erstens wäre dann an den Spielstätten noch mehr los und zweitens würden wir dann wohl in der Wahrnehmung untergehen.“ Wird er denn in vier Jahren in Rio noch mal dabei sein? Das konnte Alpers noch nicht sagen, übte aber auch Kritik an der deutschen Sportkonzept: "Das läuft falsch. Die Sportförderung ist ein Problem. Das Geld, das als Bonus für eine Medaille gezahlt wird, ist okay. Die regelmäßige Unterstützung aber nicht.“, sagt Alpers, der angibt, ein Halbjahresgehalt dafür ausgegeben zu haben. Und das, obwohl er Sponsoren wie die Sparkasse Rotenburg-Bremervörde, MT Energie und die Hannelore-Kohl-Stiftung für sich gewinnen konnte. Bei der ist er nun auch als Repräsentant tätig, erzählt seine Geschichte und will anderen Menschen, die auch mit einem Schicksalsschlag umgehen müssen, Mut machen: "Es sind viele kleine Erfolge, die einen ermutigen sein Leben wieder in die Hand zu nehmen.“ Diese Erfolge fand Alpers im Sport. "Ich habe mich in den drei Jahren körperlich und geistig weiterentwickelt. Meine Frau hat damals gesagt, dass ich perspektivlos war. Jetzt habe ich über den Sport Kontakt zu MT Energie bekommen, wo ich nun auch bald arbeiten werde – nach elf Jahren Berufsunfähigkeit.“ Und dann kommt der Sportler von selbst noch mal auf die Spiele in Rio zu sprechen und sagt: "Wenn ich so darüber nachdenke, zieht es mich da doch irgendwie hin.“