NS-Pressechef Paul Schmidt-Carell wird zum gefeierten Autor über den Weltkrieg - VON ROLAND MEYER

Zweite Karriere von Scheeßel aus

Anlässlich des Jubiläumsfestes thematisiert Scheeßel Teile seiner Geschichte. "Aber die wirkungsmächtigste Persönlichkeit, die dort je gewohnt hat, kommt nicht vor", sagt der Rotenburger Historiker Dr. Dietmar Kohlrausch. Er regt an, sich mit dem Bestsellerautor Dr. Paul Karl Schmidt alias Paul Carell auseinanderzusetzen. Der Pressechef in Hitlers Außenministerium ließ sich nach dem Krieg an der Beeke nieder und war dort bis zu seinem Tod 1997 gemeldet.

Kohlrausch stieß auf Schmidt-Carell durch ein soeben erschienenes Buch des Historikers Wigbert Benz. Dort wird folgendes Bild gezeichnet: Schmidt wurde 1911 in Thüringen geboren. Schon im Januar 1931 tritt er der NSDAP bei. An der Uni studiert der junge Mann Psychologie, Pädagogik, Philosophie und Volkswirtschaft und leitet einen antisemitischen "Kampfausschuss wider den undeutschen Geist". 1935 wird er Gaustudentenführer in Schleswig-Holstein und promoviert 1936. Schmidt versteht sich als Propagandaexperte auf wissenschaftlicher Basis, tritt 1938 der SS bei und erhält eine Anstellung in der Pressestelle des Auswärtigen Amtes, die er ab 1940 leitet. Der 28-Jährige bekleidet den Rang eines SS-Obersturmbannführers. Das entspricht dem Oberstleutnant bei der Wehrmacht. Beruflich obliegt Schmidt die Information über die Berichterstattung der in- und ausländischen Presse, die Beeinflussung der Auslandspresse sowie die Lenkung der deutschen Presse auf außenpolitischem Gebiet. Er erfindet "Sprachregelungen". Laut Benz ist Schmidt zeitweise der einflussreichste Presselenker des Dritten Reiches. 1945 hat seine Abteilung 200 Mitarbeiter. Bei Kriegsende internieren die Alliierten den Ministerialdirigenten für zweieinhalb Jahre. Er wird als Zeuge bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses gegen das Auswärtige Amt herangezogen. Dabei muss er sich zu seinen Vorschlägen wegen der Deportation der ungarischen Juden im Mai 1944 äußern. Schmidt befürchtete damals, die Gegner im Ausland "würden schreien und von Menschenjagd und so weiter sprechen." Um dem vorzubeugen, empfahl er seinem Staatssekretär, "äußere Anlässe und Begründungen" für Verfolgung und Deportation zu schaffen, etwa "Sprengstofffunde in jüdischen Vereinshäusern und Synagogen, Sabotageorganisationen, Umsturzpläne und Überfälle auf Polizisten." Für Autor Benz sind diese Vorschläge mehr als "Endlösungs-PR". 1965 kommt es zu Ermittlungen wegen Mordes. Weil Schmidts Ungarn-Empfehl-ungen 1944 jedoch nicht umgesetzt wurden, werten die Staatsanwälte "seine Tat insoweit strafrechtlich als erfolglose oder versuchte Beihilfe zu Tötungsverbrechen". Die steht seit einer Gesetzesänderung 1953 nicht mehr unter Strafe. 1971 werden die Ermittlungen eingestellt. Zurück zum Kriegsende: Nach seiner Freilassung zieht Schmidt nach Scheeßel. Den genauen Zeitpunkt kann das Einwohnermeldeamt nicht sagen. Sicher sei jedoch, dass er schon vor 1953 an der Beeke wohnte und hier bei seinem Tod 1997 noch gemeldet ist. Von 1958 bis 1974 ist der Mann zweiter Vorsitzender der Schulgenossenschaft Eichenschule. Sie ist an Entscheidungen über Ausstattungen, Einstellungen und Beförderungen wesentlich beteiligt. Benz berichtet, dass sich Schmidt Ende 1952 bei der Bildung der so genannten Hundertmann-Gruppe engagiert. Ihr Kristallisationspunkt ist der ehemalige Goebbels-Staatssekretär Werner Naumann. "Die Gruppe strebte publizistischen und politischen Einfluss für ein national orientiertes und wiedervereinigtes Deutschland an", sagt Benz. Unter verschiedenen Pseudonymen verfasst der Scheeßeler Artikel über den Krieg. Sie erscheinen vor allem in Springers Zeitschrift "Kristall", aber auch in der "Welt", der "Zeit" und dem "Spiegel". Schließlich entstehen Bücher wie "Die Wüstenfüchse. Mit Rommel in Afrika" (1958), "Sie kommen! Die Invasion in der Normandie" (1960), "Unternehmen Barbarossa. Der Marsch nach Russland" (1963) oder "Verbrannte Erde. Schlacht zwischen Wolga und Weichsel" (1966). Darin bettet der Autor Geschichten aus der Perspektive des einfachen Landsers in einen Kontext über Kriegsursachen und -wirkungen ein. Die sehr lebendig geschrieben Bände erreichen Millionenauflagen und prägen so das Bild, dass sich viele Deutsche vom Krieg machen wollten und machten. Im Kalten Krieg fällt es nicht schwer, an den Anti-Bolschewismus des Dritten Reiches anzuknüpfen. Im "Unternehmen Barbarossa" etwa bringt Schmidt-Carell seinen Lesern nahe, dass der Krieg Hitler und der Wehrmacht aufgezwungen wurde. Es habe sich nicht nur um einen deutschen, sondern um einen europäischen Abwehrkampf gegen die bolschewistische Bedrohung gehandelt - und zwar bis zum Ende in Berlin. Spionage und die unerkannte materielle Überlegenheit der Sowjetunion hätten (trotz aller Tapferkeit der deutschen Soldaten und Genialität der Generäle) zur Niederlage geführt. Wer sich an dem Krieg beteiligte, hat für Schmidt-Carell ehrenhaft, heldenhaft und anständig gehandelt, analysiert Wigbert Benz. Ausrottungspolitik und deutsche Massenmorde würden nicht thematisiert. Sogar die SS komme lediglich als kämpfende Truppe vor - grausam sind nur die Sowjets. Damit trifft der Frontgeschichten-Erzähler den Nerv der Zeit. Die Presse überschüttet ihn mit Lob und Anerkennung. Dabei hätte man es eigentlich besser wissen müssen. So schreibt die Frankfurter Allgemeine 1964 als rühmliche Ausnahme: "Nirgendwo sind für diesen Autor auf deutscher Seite Gewalt und Verbrechen geschehen. Untaten hat nur der Gegner begangen. Die eigene Seite erglänzt in betäubender Makellosigkeit. Mit der Wahrheit, die wir uns schuldig sind, hat diese Methode nichts gemein." Ton und Tenor verrieten "eine Selbstgerechtigkeit, die ebenso abwegig wie töricht ist". Für den Rotenburger Historiker Kohlrausch ist Schmidt-Carell "ein typisches und herausragendes Beispiel für Kontinuität": Staatsträger aus dem Nationalsozialismus, denen keine direkte Beteiligung an Verbrechen nachzuweisen war, prägen die neue Republik mit. "Und weil Schmidt in Scheeßel offensichtlich am gesellschaftlichen Leben teilnahm, lohnt es zu untersuchen, welchen Einfluss er auf das dortige Meinungsklima und zum Beispiel auf Personalien, Schulbuchauswahl und Aufsatzthemen an der Eichenschule hatte." Deren ehemaliger Direktor Dr. Karsten Müller-Scheeßel leitet die Geschichts-AG zum Scheeßeler Jubiläum und kennt Carell aus seiner Zeit als Lehrer in Scheeßel ab 1967. Die Rundschau hat mit ihm ein Gespräch zum Thema vereinbart.

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