Ein Bevölkerungsrückgang um 40 Prozent in den nächsten 40 Jahren? Für den Diplom-Sozialwissenschaftler Bernward Karl Junge ist das in Bezug auf die Stadt Visselhövede ein realistisches Zukunftsszenarium: "Wir müssen uns darauf einstellen, weniger, bunter und älter zu werden. Dieser demographische Wandel ist unabwendbar und er erfordert auf kommunaler Ebene langfristiges Denken und eine Wertedebatte.“
Die Prognose, die Junge speziell auf Visselhövede ausgearbeitet hat, zeigt, dass die Stadt schon 2050 nur noch rund 6.000 Einwohner zählen wird. "Diese Schrumpfung ist bereits festgelegt“, erklärt der Fachmann aus Nürnberg. Er belegt das mit einfachen Hinweisen: "Allein zur Bestandserhaltung müsste jede Frau im gebärfähigen Alter 2,1 Kinder bekommen. Der Schnitt liegt niedersachsenweit aber bei nur 1,388.“ Woran das liegt, ist für ihn klar. Seiner Ansicht nach habe ein Wertewandel stattgefunden, wonach individuelle Bedürfnisse, Selbstbestimmung, Geld und Karriere höher eingeschätzt werden als Kinder. Außerdem gebe es ökonomische Gründe für den Verzicht auf Nachkommen: "Kinder werden als teuer und als Hemmnis für das eigene berufliche Fortkommen und damit die Einkommensentwicklung und Altersversorgung gesehen.“ In der Politik macht Junge zwei grundlegende Reaktionen aus: Von einer Seite werde eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte gefordert. Die andere Seite setze auf ein Transfereinkommen für Eltern und die Berücksichtigung der Elternschaft in der Altersversorgung. "Die Versuchung ist groß, die Seiten unterschiedlichen politischen Parteien zuzuordnen. Aber das passt nicht bis ins Detail.“ Allerdings macht Junge noch eine dritte, stillschweigende, aber überwiegend praktizierte Reaktion aus: die Akzeptanz des Bevölkerungsrückgangs, einhergehend mit dem Einverständnis, diesen durch Zuwanderung zu kompensieren: "Wir werden bunter.“ Dass die Gesellschaft älter wird, gehe mit den sinkenden Bevölkerungszahlen einher. Das treffe Ballungszentren deutlich weniger als den ländlichen Raum. Auf die Kommunen komme die Aufgabe zu, die Folgen dieser Entwicklung langfristig einzuplanen. Die Einnahmen zu steigern, liege nicht im Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. Allerdings müsse bedacht werden, dass die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter (20 bis 65 Jahre) bis 2050 deutlich abnehmen wird. Junge: "Kommt heute auf einen Rentner ein Beschäftigter, wird in 40 Jahren jeder in Arbeit stehende Mensch zwei Rentnern gegenüberstehen.“ Bleiben seiner Ansicht nach die Einnahmen für die Kommunen gleich oder sinken leicht, sieht es auf der Ausgabenseite nach Junges Meinung deutlich schwieriger aus: "Die bestehende Infrastruktur für weniger Menschen zu erhalten zieht deutlich höhere Pro-Kopf-Kosten nach sich.“ Hinzu komme das Problem, Pflichtaufgaben wie den Brandschutz mit immer weniger Ehrenamtlichen zu gewährleisten. In der Folge müssten wegen der Überschuldung und zur notwendigen Haushaltssicherung freiwillige Aufgaben gestrichen werden, was einen zusätzlichen Verlust an Attraktivität nach sich ziehe. Was können die Kommunen tun? Sie könnten bestehende Standards herunterschrauben und vorhandene Einrichtungen zurückbauen. Junge warnt vor dem Versuch, durch Wettbewerb unter den Kommunen zu versuchen, den eigenen Standort von der Entwicklung abzukoppeln: "Die Chancen sind oft schon ausgereizt und das Risiko ist hoch.“ Stattdessen sieht er großes Potenzial bei weniger Gefahren in der Kooperation von Gemeinden. Gemeinsame Erledigung von Aufgaben könne die Wirtschaftlichkeit erhöhen. Dazu sei eine Wertedebatte erforderlich, die im Augenblick noch Ängste und Abwehrreflexe hervorrufe, zunächst Geld koste und politisch wenig attraktiv sei. "Aber sie ist unverzichtbar“, mahnt Junge. Keine Lösung sieht der Experte in Verschuldung zur Überwindung der Krise: "Der demographische Wandel ist keine vorübergehende Delle.“ Spätestens jetzt sei die Berücksichtigung der künftigen Bevölkerungsentwicklung bei jeder politischen Entscheidung mit zu berücksichtigen. Das gelte für den Ausbau der Infrastruktur genauso wie für die Ausrichtung der Kommunen auf wirtschaftliche Schwerpunkte. Der Vortrags- und Diskussionsabend war für rund 100 Personen geplant. Es kamen deutlich weniger. Speziell die Beteiligung aus dem politischen Raum in Visselhövede war bemerkenswert: Obwohl explizit Prognosen für die Entwicklung in der Stadt angekündigt und geliefert wurden, war von der Mehrheitsfraktion CDU/FDP im Stadtrat niemand vertreten. __________________________________________ Kommentar von Thomas Hartmann Kalter Kaffee? Wachstum als Motor für die Zukunft? Über viele Jahre funktionierte dieses Prinzip. Allerdings zeichnet sich ab, dass zumindest was die Bevölkerungszahlen angeht, Wachstum nicht mehr zu generieren ist. Im Gegenteil. Wer heute Politik macht, muss die künftigen Generationen im Blick haben. Die müssen mit dem, was heute entschieden wird, leben – mit Schulden, Umweltzerstörung und auch den gut gemeinten aber am Ziel vorbeiführenden heutigen Errungenschaften. Was das sein soll? Leere Gewerbegebiete auf der grünen Wiese, Baugebiete am Stadtrand bei gleichzeitig zerfledderten Innenstädten, der Entwicklung nicht angepasste und darum zu lange zu groß dimensionierte Infrastruktur. Bleibt zu hoffen, dass die Mehrheitsfraktion aus CDU und FDP im Visselhöveder Stadtrat bereits bestens über das Thema informiert ist und ihre Schlussfolgerungen daraus gezogen hat. Anders wäre völlig unverständlich, warum sie geschlossen der Diskussionsveranstaltung über den demographischen Wandel fern blieb. Ein generelles politisches Problem, sich mit dem Thema zu befassen, hatten zumindest die hauptamtlichen CDU-Bürgermeister der umliegenden Kommunen nicht. Sie waren da. Warum auch immer CDU und FDP in Visselhövede gefehlt haben: Sie können nicht weitermachen wie bisher und sagen: "Wir haben von all dem nichts gewusst“