DFB-Psychologe verrät: „Bei seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft habe ich ein paar Tränchen verdrückt“

Seit 20 Jahren begleitet Hans-Dieter Hermann die deutsche Nationalmannschaft. Im Podcast „Spielmacher: 360 Grad – Fußball von allen Seiten“ verrät der Sportpsychologe DFB-Anekdoten.

München - Ein Fußballspiel wird durch Tore entschieden, klar. Aber auch dem Kopf kommt dabei eine ganz wichtige Rolle zu. Das weiß kaum einer besser als Hans-Dieter Hermann (64). Der gebürtige Ludwigsburger ist seit mittlerweile 20 Jahren Teampsychologe der deutschen Nationalmannschaft. Spannende Anekdoten verrät er in der neuen Folge des Podcasts „Spielmacher: 360 Grad – Fußball von allen Seiten“ von 360Media mit Moderator Sebastian Hellmann.

Hermann über...

...den Anruf von Jürgen Klinsmann, der ihn 2004 zur Nationalmannschaft geholt hat: „Da ruft einer an und ich dachte zunächst, es sei ein Radioscherz, weil da war jemand am Telefon und der in dieser Art wie Jürgen angeschlagen. Er schlägt (von der Stimmlage, Anm.) so oben leicht an und dann ist jemand dran. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Jürgen Klinsmann Bundestrainer wird. Und dann ruft ein paar Tage später einer an, der fragt: ‚Haben Sie Lust bei der Nationalmannschaft mitzumachen?‘ Auch so leicht oben dran und mir ist fast der Hörer aus der Hand gefallen.“

...Sportpsychologie: „Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Bei Sportpsychologie geht es nicht darum, irgendwelche Defizite zu bekämpfen, sondern es ist Optimierungspsychologie. Jemand kann was gut und möchte aber zum Zeitpunkt X noch besser werden. Wenn das über mentale Trainings gelingt, dann merken die Spieler schnell: ‚Ich werde hier nicht durchleuchtet und muss über meine Kindheit reden, sondern es geht einfach darum, noch besser zu kicken. Und deshalb ist der da. Der will nix von mir, sondern ist eine Unterstützung für mich.‘“

...Traineransprachen: „Meistens sind nur wenige bei der Ansprache dabei, die in der Kabine sehr kurz ist, aber oft im Hotel etwas länger. Da passiert was. Und da kann man es echt auch versemmeln. Das ist die größte Gefahr, dass ein Trainer es versemmelt und so lange redet, weil plötzlich jeder Spieler merkt: ‚Der ist sich richtig unsicher, weil sonst redet er nicht so lang.‘ Diese letzte Ansprache hat schon was. Auch eins der großen Talente von guten Trainern.“

...über die Arbeit mit dem Trainerteam von Bundestrainer Julian Nagelsmann: „Man spürt eine unglaubliche Energie in diesem ganzen Trainerstab. Die drei – auch Sandro Wagner und Benji Glück – fügen sich unglaublich und dahinter ist eine enorme Kraft, die auch aus Selbstbewusstsein besteht. Aber dieses Selbstbewusstsein ist nicht arrogant. Das ist echt schön zu sehen. Die Jungs lassen sich mitbegeistern.“

...über Selbstkritik und das Vorrunden-Aus bei der WM 2022 in Katar: „Wenn etwas nicht optimal läuft und man ist mitzuständig für den Kopf der Spieler und die mentale Dynamik einer Mannschaft, dann muss man sich auch fragen, ob man Dinge besser machen hätte können, gibt es noch Impulse, die du eventuell übersehen hast, oder oder oder. Wir nennen das ‚Deep Breathings‘ nach den Turnieren. Die sind wichtig, damit man sagt, wo eventuell Ansatzpunkte waren. Ich könnte mir vorstellen, dass wir es 2022 in Katar fast zu gut machen wollten. Gleichzeitig hat es die Mannschaft auch überfordert als Symbol zu stehen für alle möglichen Bereiche. Wir haben vorher viele Workshops gemacht, jeder hat sich eingebracht, die Spieler sollten sich ein Bild machen. Aber dadurch, dass wir viele unterschiedliche Spieler hatten, auch mit vielen unterschiedlichen Glaubensrichtungen, war das gar nicht so leicht, als Mannschaft eine bestimmte Positionierung zu haben. Es gab Spieler, die haben vor dem Turnier gesagt: ‚wir werden dort Zeichen setzen.‘ Und andere sagten: ‚Das ist für mich aber schwierig, auch aufgrund meines Glaubens.‘ Das zusammenzubringen inklusive auch der Erwartungen der Politik und unserer Gesellschaft, das war in der Mannschaft jeden Tag auch ein Thema. Deshalb würde ich sagen, ja, das hat die Mannschaft beeinflusst. Ich würde aber nicht sagen, dass wir deshalb ausgeschieden sind. Uns haben einfach 20 konzentrierte Minuten gegen Japan gefehlt, um im Turnier zu bleiben. Die Mannschaft hat eigentlich einen guten Fußball gespielt, aber nicht in dieser Zeit.“

....die schlimmsten Erfahrungen beim DFB: „Sicherlich der tiefste Punkt für mich inklusive der Nacharbeit und ein ganz großer Schmerz war der Selbstmord von Robert Enke. Die Mannschaft war gerade zusammen, er war verletzt nicht dabei und hat sich in der Zeit das Leben genommen. Das aufzuarbeiten auch in der Folgezeit, hat mich auch an Grenzen gebracht. Auch die Bombenanschläge 2015 in Paris. Das war in der Zeit auch ein tolles Miteinander mit den Franzosen. Eine ganz spezielle Situation, die der Mannschaft schon auch noch mal deutlich gemacht hat, wie viel Glück man hat, wenn im Leben alles gut läuft. Das hat man auch danach gespürt. Viele Dinge sind nicht selbstverständlich, denn man wohnt ja auch auf der Sonnenseite des Lebens, wenn man nicht gerade verletzt ist. 2022 habe ich das erste Mal mitgekriegt, wie Politik ein Turnier extremst beeinflussen kann, sodass es wirklich Einfluss nimmt auf die Leistung einer Mannschaft. Das waren Themen, die dann noch mal neue Aspekte für mich gebracht haben. Ich bin wahnsinnig glücklich, dass ich vieles erleben durfte. Aber diese traurigen Geschichten nehmen einen schon mit. Das war eine harte Zeit, auch für viele Kollegen.“

...die Lehren aus dem Selbstmord von Robert Enke im Jahr 2009: „Durch dieses Unglück und auch durch die Stiftung, die entstanden ist, und dadurch, dass sich die Kriterien auch beim DFB verändert haben, ist heute in den Leistungszentren der Vereine die Psychologie Pflicht. Es gibt ein Screening für Leute, die sehr stark unter Druck stehen. Das ist auch ein Learning aus Robert. Man versucht dadurch Menschen herauszufinden, die eventuell eine Begleitung brauchen, die eventuell in eine Depression abrutschen könnten. Hier hat sich viel getan. Sportler, die auf dieser Ebene ankommen, auf der ich arbeiten darf, sind meistens schon durch solche Themen gegangen und haben entsprechende Unterstützung. Deshalb muss ich heute nicht mehr so draufgucken. Ich wurde damals auch kalt erwischt.“

DFB-Psychologe Hans-Dieter Hermann ist Miroslav Klose sehr dankbar

...den DFB-Rücktritt von Miroslav Klose nach dem WM-Titel 2014: „Als er 2014 aus der Nationalmannschaft zurückgetreten ist, da habe ich nicht nur ein Tränchen verdrückt. Da ist ein ganz besonderer Mensch und Teamplayer zurückgetreten, der so einer Mannschaft unglaublich viel geben konnte. Auch seine Akzeptanz meiner Tätigkeit gegenüber war für mich zur damaligen Zeit wirklich toll. So ein individueller Rat und die anderen Teamkollegen kriegen es mit, erleichtert es, auch dort einen Zugang zu kriegen. Da hat mir Miro auch sehr geholfen. Ich bin ihm für meine gesamte Laufbahn im Profifußball sehr, sehr dankbar.“

...einen mentalen Kniff von Tennis-Legende Boris Becker, der auch im Fußball helfen kann: „Aus seinen erfolgreichsten Zeiten ist ein Satz überliefert, der das auf den Punkt bringt. Er hat einem Reporter in einem Interview auf die Frage, ‚wie schaffst du es einen Matchball abzuwehren‘, geantwortet: ‚Das kann ich nicht.‘ Der Reporter war ziemlich verduzt. Boris Becker hat gesagt: ‚Wenn ich mir vorstelle, das ist ein Matchball, dann bin ich nicht in meiner Kraft. Ich mache mir dann eine Aufgabe, die heißt: Dieser Ball landet garantiert einmal häufiger im Feld des Gegners, als in meinen.‘ Nur die Situation ganz nüchtern angehen. Manchmal ist es nur so ein ‚Schau anders auf die Geschichte drauf‘. Um es mit einem Bild zu machen: Du schießt einen Elfmeter. Denkst du darüber nach, wo du ihn hinschießt oder was passiert, wenn man nicht trifft. Beides passiert bei Spielern. Techniken, wie man mit sich selbst an den Punkt kommen, dass sich die Gedanken auf die Handlung konzentrieren und nicht auf die Konsequenzen. So etwas üben wir dann zum Beispiel. Da gibt es ein paar Kniffe, die in dem Fall Themen des Selbstgesprächs sind. Sich selbst dabei zu entdecken, wie man sich in den Keller zieht. Stattdessen ein paar Bilder zu haben, damit man weiß, dass man überzeugt davon ist, dass man es kann.“

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