Evian - Bundestrainer Joachim Löw hat vor dem Halbfinale gegen Frankreich ein kniffliges Personal-Puzzle zu lösen. Ein Blick zurück soll helfen. 1996 lief es ähnlich.
Verletzungsfrust hin oder her: Vor 20 Jahren hat es geklappt, warum sollte es nicht ein zweites Mal gelingen? "1996 haben wir im Halbfinale gegen England gespielt", sagt Oliver Bierhoff, "und auch damals sind vorher viele Spieler mit dem Eisbeutel rumgelaufen." Damals gewann die deutsche Mannschaft gegen den Gastgeber der EM im Elfmeterschießen und zog ins Finale ein. Am Donnerstag soll sich die Geschichte im EM-Halbfinale gegen den "leichten Favoriten Frankreich" wiederholen - wieder trotz großer Verletzungssorgen.
Vor 20 Jahren fehlten dem späteren Europameister im Halbfinale unter anderem Jürgen Klinsmann, Jürgen Kohler, Mario Basler und Fredi Bobic. Im Halbfinale in Marseille (21.00 Uhr/ZDF) werden es der gesperrte Mats Hummels, Mario Gomez, Sami Khedira und wohl auch Bastian Schweinsteiger sein. Andere müssen also ran, aber das, sagt der heutige Teammaneger Bierhoff, muss kein Nachteil sein: "Manchmal läuft es so wie bei mir 1996. Dass es am Ende wer entscheidet, mit dem niemand rechnet."
EM 2016: Schweinsteiger-Einsatz im Halbfinale unwahrscheinlich
Kapitän Schweinsteiger machte am Dienstagmorgen unter den Augen von Teamarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, Physio Klaus Eder, Fitnesscoach Benjamin Kugel und Bierhoff einen Belastungstest im Zelt neben dem Trainingsplatz. Dass er spielen wird, ist jedoch spätestens seit der Aussage von Bundestrainer Joachim Löws, dass er auf keinen Fall angeschlagene Spieler einsetzen wolle, mehr als unwahrscheinlich.
Über die Personalmisere will der Bundestrainer ohnehin lieber nicht reden. "Das wird gar nicht thematisiert", stellte der 56-Jährige klar: "Wir registrieren es und nehmen es so an. Wir wissen, wer ausfällt, aber ich habe in alle Spieler Vertrauen."
Dennoch steht Löw für die Aufstellung ein Puzzle bevor. Ins Team kommen dürfte Emre Can als Khedira-Schweinsteiger-Ersatz auf der "Sechs" neben Toni Kroos. Die Alternative ist der ebenfalls noch nicht eingesetzte Julian Weigl. Sicher wieder dabei ist der im Achtelfinale gegen die Slowakei (3:0) überragende und gegen Italien (6:5 i.E.) der Taktik geopferte Julian Draxler für die Offensive. In die Sturmspitze rückt wohl der noch torlose Thomas Müller.
Ob Löw mit Dreier- oder Viererkette spielt, muss er sich nach eigener Auskunft "nochmal überlegen". Ersteres würde den seit dem ersten Spiel nicht mehr berücksichtigten Shkodran Mustafi wieder ins Team spülen. Zweiteres ließe einen Platz in der Offensive offen, auf den der bisher glücklose WM-Held Mario Götze hoffen darf. "Vielleicht spielen wir ja auch mit zwei Stürmern", meinte Löw. Das wären dann Müller und Götze.
Bierhoff: Frankreich ist der Favorit
Und während Löw keinen Favoriten sieht ("das wird ein Spiel auf Augenhöhe") sieht Bierhoff die Gastgeber leicht im Vorteil. "Sie haben die Frische und den Heimvorteil, deshalb favorisiere ich Frankreich leicht", erklärte der 48-Jährige: "Sie hatten beim 5:2 gegen Island ein Erfolgserlebnis, sie haben keine 120 Minuten in den Knochen, sie haben ein heißes Publikum im Rücken und wir haben einige Verletzte."
Dabei dachte Bierhoff auch "an die, die komplett zu Hause sind", an Antonio Rüdiger, Ilkay Gündogan, Marco Reus. "Man darf gar nicht denken, welch gute Mannschaft wir mit all denen hätten", sagte Bierhoff: "Aber wir haben keine Rumpfmannschaft. Das macht Mut."
Auch Müller glaubt, "dass wir in der Breite noch nie so aufgestellt waren". Auch deshalb freut er sich auf die Partie in Marseille: "Es macht Spaß gegen den Gastgeber zu spielen. Und es treffen zwei Mannschaften aufeinander, die schon im Vorfeld als Favoriten galten. Viel schönere Fußballspiele gibt es nicht. Für solche Spiele schaut man die EURO und interessiert sich für Fußball."
Und wer in die Fußball-Geschichtsbücher blickt, entdeckt noch mehr, was Deutschland Mut macht. Die letzten drei Turnierspiele gegen die Franzosen gewann das DFB-Team, seit 1976 setzte es sich bei sechs Turnieren im Halbfinale gegen Gastgeber durch und verlor nie. Das letzte Mal vor zwei Jahren auf dem Weg zum WM-Triumph in Brasilien. "Wenn es auch da eine Parallele geben würde, wäre schön", meinte Müller: "Aber wir gehen mal davon aus, dass es diesmal kein 7:1 wird."
sid