Für Brasilien platzt wieder der Traum vom "Hexa", dem sechsten WM-Titel. Und Neymar verabschiedet sich als dritter Superstar nach Lionel Messi und Cristiano Ronaldo vorzeitig.
Kasan - Neymar schlich als Erster vom Feld - entzaubert, gedemütigt, mit der schweren Last der Verantwortung auf den Schultern. Brasiliens Superstar wollte nach dem viel zu frühen WM-Aus des Titelfavoriten nur noch weg. Weg vom Friedhof der Weltmeister und all der Kritik, die auf ihn einstürzte. Der Fußballkünstler mit dem Hang zur Schauspielerei schwieg in der Stunde des Scheiterns, doch andere redeten Klartext.
"Neymar wird seine Spielweise ändern müssen, so kann man in Zukunft nicht mehr spielen", kritisierte sein Landsmann Ze Roberto den 26-Jährigen nach dem 1:2 (0:2) im Viertelfinale gegen Belgien im ZDF. "Neymar muss nun sein Verhalten überdenken", schrieb in seiner Heimat die Zeitung Estado de Minas. Und das argentinische Blatt Clarin urteilte knallhart: "Neymar war ein Schatten seiner selbst in der Partie, in der ihn die Selecao am meisten brauchte."
Als in der Arena von Kasan nach dem viermaligen Weltmeister Deutschland und dem zweimaligen Titelträger Argentinien auch der Rekordchampion ausschied, war Brasiliens großer Hoffnungsträger wieder einmal mehr mit Show und Drama als mit Fußball aufgefallen. Mal krümmte er sich nach einem leichten Foul am Boden, dann versuchte er, mit einer dreisten Schwalbe einen Elfmeter zu schinden. Immer wieder diskutierte er mit dem Schiedsrichter. Seine fußballerische Bilanz fiel mager aus: zwar bemüht, aber mit vielen Ballverlusten und falschen Entscheidungen.
Dass seinen gefährlichsten Schuss Torhüter Thibaut Courtois in der Nachspielzeit grandios parierte, rundete das Bild ab. Die WM, bei der Neymar aus dem Schatten der Weltfußballer Cristiano Ronaldo und Lionel Messi heraustreten und Brasilien den "Hexa", den sechsten WM-Titel, schenken sollte, wurde für ihn zu einem Fiasko. In Erinnerung bleibt der schlechte Schauspieler Neymar, nicht der begnadete Fußballer.
Dabei war der Star von Paris St. Germain gar nicht der Hauptschuldige für das vierte WM-Aus in Folge gegen ein europäisches Team. Ausgerechnet Fernandinho, Marcelo, Paulinho und Willian, die einzig verbliebenen Spieler der 1:7-Demütigung im Halbfinale 2014 gegen Deutschland, enttäuschten besonders. Die ersten Drei wurden von dem furios aufspielenden belgischen Offensivtrio Kevin De Bruyne, Romelu Lukaku und Eden Hazard gnadenlos ausgekontert, Fernandinho leitete zudem mit einem Eigentor das Unheil ein. Außenstürmer Willian lief sich immer wieder fest und wurde schon zur Halbzeit ausgewechselt.
"Was für eine Horrornacht", klagte Champions-League-Sieger Marcelo. "Es ist wie der Tod eines Nahestehenden, weil der Hexa der Traum jedes Einzelnen von uns war", jammerte der Ex-Leverkusener Renato Augusto, der das einzige Tor erzielte. Kein einziges Mal traf Gabriel Jesus. Der 21-Jährige von Manchester City schrieb als erster torloser brasilianischer Mittelstürmer seit 1974 unrühmliche Geschichte - mit nur einem einzigen Torschuss im gesamten Turnier.
Und der vermeintliche Retter des brasilianischen Fußballs? Nationaltrainer Tite, von allen "Professor" genannt, wollte sich noch nicht eindeutig zu seiner Zukunft äußern, ließ aber durchblicken, dass er gerne weitermachen würde. "Jedes Mal, wenn ein Trainer für ein Projekt mehr Zeit bekommt, kann er es besser voranbringen", sagte der 57-Jährige, der erst vor zwei Jahren den Posten übernommen hatte.
Der Verband hatte schon vor der WM versucht, den auslaufenden Vertrag zu verlängern. Fürsprecher hat Tite trotz des frühen Ausscheidens genug. "Ich denke, dass Tite bleibt", sagte Ex-Weltmeister Ronaldo: "Er ist ein Supertyp und verrichtet sensationelle Arbeit, die er fortsetzen muss." Auch Kapitän Miranda meinte: "Professor Tite hat gezeigt, dass er ein großer Trainer ist. Ich hoffe, er legt eine andere große Serie hin, die dann mit dem WM-Titel gekrönt wird."
sid