Robert Enke und der Suizid: Was der Torwart hinterlässt

Letzter Ausweg Suizid: Robert Enke im Torwarttrikot der deutschen Nationalmannschaft.
 ©afp

Am 10. November vor zehn Jahren wusste Robert Enke keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen. Seine Witwe Teresa kämpft darum, dass sein Tod kein sinnloser war.

Teresa Enke sitzt in einem nur fad beleuchteten Raum. Auf dem Tisch vor ihr liegen Käsebrötchen. Sie rührt sie nicht an. Bald wird sie in einen Saal vor mehrere hundert Zuhörer wechseln, um über die Krankheit ihres verstorbenen Manns zu berichten. Auch darüber, wie sie mit dessen Suizid fertiggeworden ist. Vor allem aber darüber, was die Menschen lernen können mit dem Blick zurück auf Robert Enke. Den Fußball-Nationaltorwart, der des Lebens derart überdrüssig war, dass er keinen anderen Ausweg mehr wusste, als auf der Bahnstrecke zwischen Bremen und Hannover aus dem Leben zu scheiden. Mit 32.

Es ist noch die Vorbesprechung, und der Moderator ist viel aufgeregter als sie selbst. Teresa Enke, 43, hat dem öffentlichen Teil ihres Lebens der Aufklärung über das Thema Depression gewidmet. Es ist ihre Mission, und es ist ihre Art, mit dem Schicksal klarzukommen. Sie sagt: „Dieses Darüber-Reden ist natürlich auch ein Stück der Trauerarbeit. Es ist der Vorteil, den ich gegenüber anderen mit einem ähnlichen Schicksal habe: Mein Mann ist immer noch präsent.“ Dem Lokomotivführer schrieb sie einen mitfühlenden Brief. Sie ist eine zarte Frau mit einer dünnen Stimme. Aber sie ist auch eine besonders starke Frau.

Robert Enke hinterlässt seine Frau und eine Adoptivtochter

Das war schon am Tag danach ersichtlich. Zehn Jahre ist das jetzt her. Am frühen Abend des 10. November, einem trüben Dienstag, stellt Robert Enke sein Auto unweit seines Wohnortes Empede zehn Meter vom Gleisbett in der Nähe einer Bahnschranke ab. Anschließend läuft er mehrere 100 Meter an den Gleisen entlang und lässt er sich von dem aus Richtung Bremen kommenden Regionalzug erfassen. Er ist sofort tot. Robert Enke hinterlässt seine Frau Teresa und die acht Monate alte Adoptivtochter Leila, mit denen der achtfache Nationalspieler gemeinsam mit fünf Hunden, zwei Katzen und weiteren Tieren auf einem Bauernhof nördlich von Neustadt am Rübenberge gewohnt hatte.

Die gemeinsame leibliche Tochter Lara war drei Jahre zuvor im Alter von zwei Jahren an den Folgen eines Herzfehlers verstorben. Erst im Frühjahr hatte das Ehepaar die kleine Leila im Alter von zwei Monaten adoptiert. „Wir sind sehr, sehr glücklich und dankbar für diesen kleinen Menschen“, sagten die Eltern damals. Die Episode des Sich-Glücklich-Fühlens hatte bei Robert Enke nicht lange angehalten.

Theresa Enke will die Öffentlichkeit aufklären

Noch in der Nacht nach dem Tod ihres Mannes entscheidet Teresa Enke, dass sie tags darauf die Öffentlichkeit aufklären wird, warum Robert Enke nicht weiterleben wollte. Auch, um Spekulationen aus der Welt zu schaffen, der Torwart habe an einer mysteriösen Viruserkrankung gelitten. „Ich habe die Entscheidung getroffen: Ich spreche! Das ist mein Mann, ich möchte nicht, dass jemand anderes spricht. Ich möchte sagen, wie es war, ich hatte das Gefühl, ich bin es Robbie schuldig.“

Zwei Monate zuvor hatte der Nationaltorwart sich vor dem WM-Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan aufgrund eines, so die offizielle Verlautbarung, „bakteriellen Infekts“ aus dem Trainingslager in Barsinghausen verabschiedet. Eigentlich hatte der Profi von Hannover 96 im heimischen Stadion sein neuntes Länderspiel absolvieren sollen. Für die im Sommer 2010 in Südafrika bevorstehende Weltmeisterschaft galt er als erster Kandidat. Aber es war eng im Zweikampf mit René Adler. Bundestrainer Joachim Löw hatte das noch nicht entschieden. Auch Tim Wiese und Manuel Neuer standen noch auf der Torhüterliste, wenngleich hinter Enke und Adler.

Teresa Enke sagt auf dem Podium: „Der von den Medien geschürte Konkurrenzkampf mit René Adler – das war schlimm für Robbie. Die Nationalmannschaft war ihm so wichtig, das war sein Traum, aber das hat ihn kaputtgemacht.“ Er habe sich gefühlt wie ein „einsamer Cowboy im Strafraum“.

Robert Enke will sich mit seiner Krankheit nicht offenbaren

Während die Teamkollegen Aserbaidschan 4:1 bezwingen, begibt sich Robert Enke, unbemerkt von der Öffentlichkeit, in Köln in Behandlung bei Psychiater Valentin Markser. Er will sich mit seiner Krankheit nicht offenbaren. Auch nicht dem Psychologen der deutschen Nationalmannschaft, Hans-Dieter Hermann, und dem Internisten Tim Meyer. Hermann und Meyer, zwei Männern mit großen Einfühlungsvermögen.

Hermann und Meyer hatten seinerzeit eine mögliche Depression zwar in Betracht gezogen, verwarfen den Verdacht dann aber wieder. Der DFB-Teampsychologe berichtete später von einem „etwa einstündigen Gespräch“, in dem er Enke „außerhalb seiner Müdigkeit als privat und sportlich glücklichen Menschen mit klaren Zukunftsideen“ erlebt hätte.

Robert Enke und die Angst vorm Schwäche zeigen

Robert Enke wollte gegenüber Hermann keine Schwäche zeigen. Er wusste, dass Schwäche im Verdrängungswettbewerb zwischen den Pfosten keine gute Botschaft für einen Stammplatz ist. Der Sportphilosoph Gunter Gebauer gibt ihm Recht: „Der Fußball erträgt keine Schwäche. Kein professioneller Sport erträgt sie.“ Psychiater Markser bestätigt: „Ein Spieler wird fortwährend auf seinen Nutzen überprüft, wie ein Auto“.

Fußballtrainer, auch solche mit der großen Sozialkompetenz eines Joachim Löw, wählen ihre Startelf aus dem vorhandenen gesunden Personal aus. Verletzte oder erkrankte Spieler, Kniereizungen, Bänderdehnungen oder grippale Infekte, gehören nicht dazu. Und auch keine Profis, die an Depressionen leiden und so Gefahr laufen, ihre Leistung nicht optimal abrufen zu können.

Theresa Enke beschreibt, wie allein sich ihr Mann gefühlt hat

Im Saal vor den vielen Zuhörern wird Teresa Enke widersprechen: „Robbie dachte, er sei allein. Seine größte Angst war immer, dass er seinen Platz im Tor verliert, wenn er seine Krankheit öffentlich macht. Aber die wäre ihm genommen worden. Er hätte um diesen Platz im Tor nicht fürchten müssen, wenn er sich hätte erfolgreich behandeln lassen und wieder zurückgekommen wäre. Es ist wie bei einer anderen Verletzung auch: Ist die Behandlung erfolgreich, wird ein Fußballer wieder genauso gut spielen können wie davor.“

Ihr Mann hatte das einige Jahre zuvor schon bewiesen, nach schweren depressiven Phasen in Barcelona und Istanbul. Aber er hatte die Hoffnung verloren, das noch einmal zu schaffen. In sein Tagebuch schrieb er, er sei ein Versager, er könne nichts, das Leben sei nicht lebenswert.

Robert Enke nimmt sich das Leben, während die DFB-Elf sich im Hotel trifft

Im Tor hielt er Bälle, die andere durchließen.

An jenem Abend, als Robert Enke sich das Leben nahm, hatte die Nationalmannschaft gerade in einem Hotel in Bonn versammelt, um sich auf das für den 14. November 2009 in Köln angesetzte Länderspiel gegen Chile vorzubereiten. Robert Enke war nicht nominiert worden, nachdem der Kapitän von Hannover 96 erst zehn Tage zuvor beim 1:0-Sieg in Köln erstmals seit seines vermeintlichen Infekt wieder im Tor gestanden hatte. Im Kreis der Nationalspieler wurde die Nachricht mit großer Betroffenheit aufgenommen. Das Spiel gegen Chile wurde abgesagt.

Fünf Tage nach seinem Tod kamen 35.000 Menschen zur Trauerfeier in das Stadion von Hannover, die live im Fernsehen übertragen wurde. Der damalige DFB-Präsident Theo Zwanziger sagte in einer bewegenden Rede: „Fußball ist nicht alles. Denkt nicht nur an den Schein. Denkt auch, was in den Menschen ist, an Zweifel und Schwäche.“

Teresa Enke sorgt mit der Robert-Enke-Stiftung dafür, das Thema Depressionen zu enttabuisieren

Teresa Enke, die zwischenzeitlich nach Köln umgezogen war und ihr Privatleben konsequent abschottet, wohnt inzwischen wieder in Hannover. An der Robert-Enke-Straße am Stadion fährt sie regelmäßig vorbei. Mit der von ihr gemeinsam mit dem Deutschen Fußball-Bund, der Deutschen Fußball-Liga und Hannover 96 initiierten Robert-Enke-Stiftung hat sie mit dafür gesorgt, das Thema Depressionen zu enttabuisieren. Sie glaubt: „Im Fußball sehe ich uns tatsächlich schon einen Tick weiter als in der Gesellschaft. Es wird darüber in den Mannschaften gesprochen, es gibt Netzwerke. Es entwickelt sich etwas.“ Aber sie weiß auch: „Heute müssen die Spieler in den Sozialen Medien viel mehr aushalten, das ist ein Teil des Geschäfts, weshalb wir vor allem junge Leute darauf besser vorbereiten müssen.“ Sie lässt nicht locker. Sie ist unermüdlich.

Am Sonntag wird sie zum Grab ihres Mannes und ihrer gemeinsamen Tochter gehen. Sie wird nicht allein sein. Sie sagt, sie werde versuchen, diesen Tag schnell hinter sich zu bringen. Und sie will sich dabei auch an die schönen Stunden mit Robert Enke, dem Ehemann und Nationaltorwart, erinnern.

Gedenkminute für Robert Enke

Der DFB und die Robert-Enke-Stiftung haben zu einer gemeinsamen Aktion des deutschen Fußballs unter dem Hashtag #gedENKEminute aufgerufen. Bei den Fußballspielen am Sonntag soll nicht nur an Robert Enke erinnert, sondern vor allem für die Volkskrankheit Depression und die vorhandenen Hilfsangebote sensibilisiert werden. Aufgerufen sind alle Vereine von der Bundesliga bis zur Kreisliga. Auch Klubs, die bereits am Freitag oder Samstag ihre Partien bestreiten, können sich beteiligen.

Die Robert-Enke-Stiftung hat unter anderem dafür gesorgt, dass psychisch erkrankten Leistungssportlern, Trainern und Schiedsrichtern ein schneller, vertraulicher Zugang zu einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlung ermöglicht wird. Die Beratungshotline Seelische Gesundheit im Sport (Telefon: 0241 – 80 36 777) bietet einen Erstkontakt als Anlaufstelle.

Die Vereinigung der Vertragsfußballspieler (VDV) sieht auch zehn Jahre nach dem Suizid von Robert Enke große Defizite in der sportpsychologischen Betreuung im deutschen Profifußball. Laut einer Umfrage unter Spielern aus den ersten drei Ligen würden nur wenige Teams eine entsprechende professionelle Betreuung anbieten.

Anlässlich des zehnten Todestages von Robert Enke bringt sein ehemaliger Ausrüster eine Sonderedition der Torwarthandschuhe auf den Markt, die Enke in seinen letzten Spielen getragen hatte. Auf dem Daumen der Handschuhe steht „Gemeinsam das Leben festhalten“, auf der Lasche „Robert Enke“. (jcm/dpa/sid)

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