Marseille - Echte Fans feuern ihre Mannschaft mit Fangesängen an. Wissenschaftler haben herausgefunden: Dem Team nützt das nicht immer. Es gibt auch Unterschiede zwischen Nationalmannschaft und Verein.
Es war eine Panne, die vor mehr als 50 Jahren die Fußballfankultur weltweit verändern sollte: 1963 fällt im Stadion an der Anfield Road in Liverpool die Musikanlage aus. Was folgt, ist nicht etwa Stille. Vielmehr dröhnt der Gesang Tausender Fußballfans durchs Stadion, die das Stück „You'll Never Walk Alone“ kurzerhand weitersingen. Heute ist das Lied eines der bekanntesten Kurvenlieder - und Singen Teil der Fußballkultur.
„Fangesänge gehören zu den festen Ritualen im Stadion“, sagt der französische Ethnologe Christian Bromberg. Das gemeinsame Singen unterstütze nicht nur die Mannschaft, sondern diene auch dem Gemeinschaftsgefühl. Und gerade zur Europameisterschaft stärke es auch das Nationalgefühl.
Fangesänge bei Vereinen normal, bei Nationalteams die Ausnahme
Während das Liederbuch von Europas Fußballvereinen gut gefüllt ist, haben Nationalmannschaften selten ein festes Repertoire von Kurvenliedern und Schlachtgesängen, sagt Bromberg. „Lokale Clubs haben eine eingespielte Fangemeinde, viele Lieder habe eine lange Tradition. Das Publikum bei internationalen Turnieren ist viel durchmischter.“ Die Nationalhymne sei zumindest bei den französischen Fans der kleinste gemeinsame Nenner.
Englische und irische Fußballfans seien auch international gesangssicher, die italienischen Fans setzten bei ihrer Stadionperformance auf viel Farbe und Fahnenschwenken, sagt Bromberger. Frankreich wiederum sei Spezialist auf dem Gebiet der Schlachtrufe. „Meistens richten sich die Rufe gegen das gegnerische Team und sind wenig charmant.“
Fangesänge: Wann wir was gesungen?
Georg Brunner, Leiter des Instituts für Musik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, hat auf Bundesliga-Ebene das Fanverhalten in unterschiedlichen Spielsituationen untersucht. Das Ergebnis: Liegt die eigene Mannschaft zurück oder steht ein Spiel unentschieden, klatschen, rufen und pfeifen Fans. Musikalischer wird es erst, wenn ein Tor fällt oder das Spiel kurz dem Abpfiff steht. „Statistisch betrachtet werden dann häufiger Kurzgesänge und Lieder angestimmt“, sagt Brunner.
Schon in der Antike habe der Mensch Sportler angefeuert. „Fans wollen mit ihren Aktionen das Spiel positiv beeinflussen. Ihre Gesänge kann man deshalb auch als Heilmittel bezeichnen“, erklärt Brunner.
Fangesänge wie das Anrufen einer höheren Macht
In den 1980er Jahren ging der Volksmusikwissenschaftler Ernst Klusen der Frage nach, warum Menschen im Stadion singen. Das Singen, so Klusen, sei vergleichbar mit dem Anrufen einer höheren Macht. Teil dieses Ritus sei ein nicht alltägliches Getränk als Narkotikum, eine nicht alltägliche Bewegung und eine nicht alltägliche Kleidung. Übertragen auf die Stadionsituation sind das der Alkohol, die La-Ola-Welle und das Trikot oder der Fanschal. „Die Maskierung im Stadion hilft Fans, in eine andere Rolle zu springen“, sagt Brunner. Hinzu komme das enthemmende Phänomen der Masse.
Für einen echten Stadionhit gibt es dem Musikwissenschaftler zufolge ein simples Rezept: Auf eine bekannte Melodie wird ein neuer Text gelegt. Das Lied „Yellow Submarine“ von den Beatles beispielsweise muss sowohl für die Schmähung des FC Bayern München („Zieht den Bayern die Lederhosen aus“) wie auch des VfL Wolfsburg („Ihr seid nur ein Autolieferant“) oder von Mainz 05 („Ihr seid nur ein Karnevalsverein“) herhalten.
Fangesänge helfen dem Team? "Stimmt leider nicht"
Aber helfen die gesungenen Angriffe auch dem eigenen Team? Der Sportpsychologe Bernd Strauß hat den Nutzen von Fangesängen auf den Spielverlauf untersucht. „Wenn Fans ihre Mannschaft zur Niederlage klatschen“ heißt der bittere Titel einer von Strauß' Arbeiten zum Thema. „Dass Fangesang eine Mannschaft zum Sieg führt, ist eine weit verbreitete Annahme. Aber sie stimmt leider nicht“, sagt er.
„Es kommt auf die Psyche des Spielers an, ob die Atmosphäre im Stadion als motivierend oder erdrückend wahrgenommen wird“, erklärt der Forscher. Wird der empfundene Druck auf die Spieler zu hoch, kann die wohlmeinende Unterstützung auch ins Gegenteil umschlagen. Ein Beispiel dafür ist das 7:1 der deutschen Mannschaft 2014 im WM-Halbfinale gegen Brasilien in Belo Horizonte. In Brasilien spreche man vom „Schock von Mineirão“, sagt Strauß.
„Wir haben bei der Weltmeisterschaft 2006 aber auch das Gegenteil sehr gut beobachten können. Der Druck auf die deutsche Mannschaft im eigenen Land war gewaltig“, sagt Strauß. Dem Team gelang es aber, den Druck in positive Motivation umzusetzen. Strauß führt diesen Erfolg auf die Arbeit von Hans-Dieter Herrmann zurück. Der Sportpsychologe arbeitet seit 2004 mit der deutschen Nationalmannschaft. Er bereitet die Spieler darauf vor, mit den an sie gesetzten Erwartungen optimal umzugehen.
Wie aber soll sich nun der ideale Fan im Stadion verhalten? Fußballfans sollten keineswegs aufhören, ihre Mannschaft singend zu unterstützen, betont Strauß. Die Fanpsyche, sagt er, sei eben voller Optimismus - bis hin zu irrationalen Erwartungen. „Genau das macht das Fansein auch aus.“
dpa