Rio de Janeiro - Es sind kuriose Szenen beim Olympischen Tischtennis-Turnier. Eigentlich dürfen pro Land nur zwei Teilnehmer starten. Doch in Rio sind neben den zwei Starterinnen und Starter für China noch 22 weitere Chinesen dabei. Die starten für Länder aus der ganzen Welt.
Je 70 Spielerinnen und 70 Spieler nehmen zur Zeit beim olympischen Tischtennis-Turnier in Rio de Janeiro teil. Aus jedem Land dürfen genau zwei Athleten starten. China ist bekanntlich die Großmacht im Tischtennis schlechthin und stellt sowohl bei Männern und Frauen die absoluten Top-Favoriten. Und die werden ihrer Rolle bislang absolut gerecht. Bei den Herren stehen der als beinahe unbesiegbar geltende Weltranglistenerste Ma Long und Olympiasieger Zhang Jike souverän im Halbfinale. Auch bei den Damen haben Li Xiaoxia und Ding Ning, die bei Olympia 2012 in London bereits Gold und Silber gewannen, die Vorschlussrunde erreicht. Diese Entwicklungen sind absolut keine Überraschung. Seit Tischtennis 1988 olympisch wurde, holte China 20 von 24 Goldmedaillen. Die Konkurrenz im eigenen Land ist so groß, dass viele Chinesen sich entscheiden, für einen anderen Verband und damit für ein anderes Land zu starten. In Rio sind neben den vier Top-Spielern noch 22 weitere gebürtige Chinesinnen und Chinesen dabei - sie spielen für Deutschland, Österreich, die Niederlande, Polen oder sogar für den Kongo und Katar.
Konkurrenz in China zu groß
Han Ying oder Liu Jia haben meist keine andere Wahl. In ihrem Heimatland China ist die Konkurrenz so enorm groß, dass sie dort so gut wie keine Chance auf internationale Einsätze haben. Bereits im Alter von fünf oder sechs Jahren werden die jungen Talente auf Erfolg gedrillt. Der Druck, den Durchbruch zu schaffen, ist riesengroß. Auch der deutsche Bundestrainer Jörg Roßkopf sieht dies als Grund, dass viele chinesische Tischtennisspieler auswandern: "Ich denke, dass manche chinesische Spieler schon vor den harten Trainingsbedingungen flüchten, und dann finden sie im Ausland natürlich oft auch ein sehr angenehmes Leben". So war es auch bei Han Ying. Geboren wurde sie 1983 in Liaoning, 2002 kam sie nach Deutschland, wo sie 2010 die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. In Rio schaffte es die Weltranglisten-Achte bis ins Viertelfinale, wo sie an der Weltmeisterin Ding Ning scheiterte.
Bei Liu Jia ist es ähnlich. Die 34-Jährige kommt aus Peking, wo sie bereits mit 1995 in einen Profiklub aufgenommen wurde. 1997 reiste sie nach Österreich aus und schloss sich mit nur 15 Jahren einem österreichischen Verein an, ohne ein Wort Deutsch oder Englisch sprechen zu können. Nur ein Jahr später wurde sie bereits eingebürgert und trug bei der Eröffnungsfeier in Rio sogar die Fahne der Alpenrepublik. Im Achtelfinale war bei ihr Schluss.
Der Druck in China ist immens
Für viele chinesische Talente sind der Erwartungsdruck und der harte Auswahlprozess einfach zu stark. Darüber erzählt auch Han Xing, die nun für den Kongo spielt: "Wenn du mit 15, 16 Jahren nicht den Durchbruch schaffst, hast du keine Chance mehr", sagt Xing. Die Konkurrenz in China ist so groß, dass für eine langfristige Förderung keine Notwendigkeit besteht. Wenn es im Jugendalter nicht reicht, braucht man eine Alternative, sieht auch Bundestrainer Roßkopf so: "Der Generationswechsel vollzieht sich dort unheimlich schnell, mit Mitte 20 beenden die meisten ihre Karriere, denn von hinten drücken schon die jungen Spieler nach." Dass für Deutschland neben Han Ying auch mit Shianoa Shan eine gebürtige Chinesin startet, begrüßt der Bundestrainer: "Ich sehe es so, dass es für unsere Talente eine große Motivation sein kann, an den Chinesen im eigenen Team vorbeizuziehen."
Tommy Danielson, Trainer der Luxemburger und selbst Ehemann einer gebürtigen chinesischen Tischtennisspielerin, sieht diese Entwicklung kritisch und fordert ein Umdenken beim Weltverband: "Da muss was passieren. Das ist nicht gut für die Zuschauer und auch nicht für die Spieler, wenn bei jedem großen Turnier die Plätze eins bis vier quasi vorher schon vergeben sind."
In Rio starten bei Männern und Frauen Chinesen für Länder aus allen Ecken dieser Welt: Alle vier brasilianischen Starter kommen aus dem Reich der Mitte, genauso wie die "Spanier" Shen Yanfei und ihr Landsamnn He Zhiwen, oder auch Kou Lei, der für die Ukraine startet. Ein weiteres Beispiel ist Li Ping, der für den Wüstenstaat Katar antritt.
Beim Tischtennis bleibt wohl eines sicher: Am Ende gewinnt (fast) immer China.
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tor