tz-Interview mit Sportphilosoph: Ist Olympia noch zu retten?

Olympia in Rio: Ein schwieriges Verhältnis.
 ©AFP (Symbolbild)

Rio de Janeiro - Die Olympische Spiele vertreten bestimmte Werte. So war es früher. Wie sich das verändert hat, erklärt Sportphilosoph Elk Franke im tz-Interview.

Die Jugend der Welt trifft sich zum sportlichen Vergleich und feiert ein großes Fest der Völkerverständigung – so war es gedacht, als 1896 die Idee der antiken Olympischen Spiele wieder aufgenommen wurde. „Das Wichtigste (…) ist nicht der Sieg, ­sondern die Teilnahme, wie auch das Wichtigste im Leben nicht der Sieg, ­sondern das Streben nach einem Ziel ist. Das Wichtigste ist nicht, erobert zu haben, sondern gut gekämpft zu haben“, schrieb Gründervater Pierre de Coubertin. Heute sind diese Werte und das Olympische Motto „citius, altius, fortius“ (schneller, höher, stärker) fast komplett durch Doping, Geldgier und ­Korruption ­ersetzt. Ist Olympia noch zu retten?

Herr Dr. Franke, der Verlust der Olympischen Werte ist ein großes Thema. Haben wir sie nicht bereits verloren?

Elk Franke, Philosoph und Sportwissenschaftler: Das kommt darauf an, ob man diese Frage realistisch oder idealistisch beantworten möchte. Das IOC hat Olympia in den letzten Jahrzehnten zunehmend in einen gigantischen Kommerzbetrieb verwandelt. Dennoch gibt es viele Menschen, die sich bisher vom Ereignis Olympia immer noch angesprochen fühlen. Allerdings agieren IOC-Präsident Thomas Bach und seine Phalanx zurzeit so, dass auch die größten Idealisten ihren Glauben an die immer wieder beschworenen olympischen Ideale verlieren müssen.

Sind die wenigen Bewerber für die Winterspiele schon Beleg dafür?

Franke: Sicherlich. Auch bei den Sommerbewerbungen wird es in Zukunft kaum noch demokratisch legitimierte Staaten geben, die sich bewerben werden. Putin, die Golfstaaten oder schon wieder Peking, das nächste Mal als Winterolympiade, erinnern eher an 1936 als an das, was Olympia verkörpern möchte: alle vier Jahre viele große und traditionsreiche Sportarten einer Weltöffentlichkeit präsentieren und dabei zeigen, wie ein konkurrierender Wettbewerb in einer Welt mit eigener Sinndimension möglich ist, bei der das scheinbare Paradox aus authentischem Leistungsstreben und fairer Chancengleichheit überwunden wird. Eine Idee, die sich abgrenzt von den Prinzipien der Erfolgsgesellschaft des Alltags und die dennoch anschlussfähig erscheint. An der man teilhaben kann, auch wenn man selbst nicht aktiv handelt. Mit der man sich identifizieren kann ohne Mitwirkender zu sein. Eine relativ einmalige Faszinationsmöglichkeit, die jedoch an die Bedingung geknüpft ist, dass wir daran glauben können, dass in dieser Sonderwelt des sportlichen Wettbewerbs auch die Regeln beachtet und geschützt werden, die diesen Sonderstatus garantieren.

Und dafür ist bei Olympia ein unabhängiges IOC verantwortlich?

Franke: Ja, grundsätzlich ist das IOC für die Sicherstellung und Beachtung dieser Prinzipien zuständig, aber unabhängig war es noch nie. Schon 1936 waren die Spiele politisch motiviert, seit den Coca-Cola-Spielen 1996 in Atlanta unterwirft sich das IOC immer mehr ökonomischen Entwicklungen und im Moment werden Olympische Spiele darüber hinaus wieder ein politisches Macht- und Prestigeobjekt. Die Herausforderung für das IOC besteht unter diesen Rahmenbedingungen darin, zumindest den Glauben an die idealisierten Handlungsbedingungen aufrechtzuerhalten. Dies scheint bei aller Ökonomisierung und Politisierung so lange zu gelingen, wie glaubhaft erkennbar ist, dass diese Entwicklungen zwar den äußeren Rahmen, aber nicht die spezifischen Handlungsbedingungen der Sonderwelt beeinflussen. Die Tatsache, dass nicht einmal der nachgewiesene Tatbestand des systematischen Staatsdopings ausreicht, um dieses Land, in dem so etwas möglich ist, von den nächsten Spielen auszuschließen, ist ein Armutszeugnis für das IOC. Darüber hinaus ist es zynisch, dass unter der Flagge der Staatsdoper nach dem vereinbarten Verfahren auch unentdeckte gedopte Athleten an den kommenden Wettbewerben teilnehmen können und der Kronzeugin, die die Offenlegung dieses Betrugs bei großen eigenen Nachteilen möglich machte, eine Teilnahme verboten wird.

Hat Bach alles noch viel schlimmer gemacht?

Franke: Die Situation, die sich in den vergangenen Wochen verfestigt hat, ist einmalig. Das Staatsdoping der Russen erinnert an den Kalten Krieg. 1400 Proben wurden zerstört, über 1000 umgewandelt und 600 Tests waren positiv. Der McLaren-Report geht davon aus, dass dies erst die Spitze des Eisbergs ist, und hat klare Hinweise gegeben, wie man diese Ergebnisse interpretieren sollte. Ansprechpartner für das IOC ist dabei das russische NOK, es hat alles zu verantworten. Es muss gesperrt werden ,was auch Konsequenzen für seine Mitglieder hat. Die Briten, die gegen den Brexit sind, müssen ihn auch mittragen.

Wäre das gerecht für den einzelnen Sportler?

Franke: Man kann sich die Frage stellen, was der Einzelne dafür kann, wenn die Funktionäre ein solches Betrugssystem entwickeln. Dirk Nowitzki und Bob Hanning haben sich beispielsweise dafür ausgesprochen, saubere Athleten starten zu lassen. In zehn Tagen kann dies aber kein Fachverband seriös bewerten, zumal völlig unklar ist, wie die geforderten nicht-russischen Dopingproben zu bewerten sind. Es können letztlich nur Proben bei internationalen Wettbewerben sein und die sind bekanntlich sehr selten auffällig. Die genannten Kriterien, die knappe Zeit und die Rückverlagerung der Verantwortung an die Fachverbände nach dem McLaren-Report ist ein Kniefall vor Putin zu Lasten der letzten Reste an Glaubwürdigkeit der Olympischen Spiele im 21. Jahrhundert. Ein möglicher Kompromiss hätte die Einzelteilnahme nachweislich unbelasteter russischer Sportler ohne Rückbindung an das russische NOK unter der Olympiaflagge sein können, wie sie auch Flüchtlingen zugestanden wird.

Julia Stepanowa wurde dies nicht zugebilligt.

Franke: Und das ist unvorstellbar. Sie ist die relevante Person in der ganzen Sache, und ihr Fall hätte dem Anti-Dopingkampf in Zukunft eine neue Qualität geben können. Die Chance ist vertan und im Gegenzug verspricht Wladimir Putin generös neue Schritte gegen Doping und ernennt den 81-jährigen Witali Smirnow, ein Ex-Sowjetfunktionär, der seit 45 Jahren im IOC hockt, als Leiter der neu gegründeten Anti-Doping-Kommission. Es ist ein schwarzer Tag für den Anti-Dopingkampf.

Viele Athleten werden erst nachträglich belangt, bleibt das beim Zuschauer genauso hängen, wie wenn beispielsweise morgen herauskommen sollte, dass Usain Bolt gedopt ist?

Franke: Der Hase-Igel-Wettbewerb ist das Problem der Probenüberprüfung und bestärkt die Taktik des IOC. Die Pekingproben von 2008 können 2016 mit anderen Methoden analysiert werden. Bildhaft gesprochen: Die Dopingbekämpfer können im Labor nicht einfach das Licht anmachen, sondern sie können nur wie mit einer Taschenlampe das suchen, von dem sie auch schon wissen, was gesucht werden kann. Bis vor Kurzem wurden die Proben unter IOC-Regie eingelagert, das sich lange Zeit ließ mit Nachprüfungen. Notwendig ist eine vollständige Unabhängigkeit aller nationalen und internationalen Dopingkontrollorgane mit einer TÜV-ähnlichen Struktur. Auch die Tatsache, dass WADA-Präsident Craig Reedie gleichzeitig IOC-Vizepräsident ist, ist nicht hinnehmbar. Im Moment werden punktuell Proben und Ergebnisse veröffentlicht, aber nur so viel, dass das System nicht als völlig marode erscheint. Je mehr dieses Balancespiel als Imagespiel entlarvt wird, desto pauschaler werden die Dopingverdächtigungen bei herausragenden sportlichen Leistungen – zu Lasten der Sportler, die einen dopingfreien Sport betreiben. Dieses Balancespiel zerstört mehr, als seine selbstgefälligen Spieler ahnen. Bach hätte als Erneuerer in die Geschichte eingehen können, aber schon sein Werdegang im IOC ließ erkennen, dass er eher der Winkeladvokat ist, den alle wählen können, ohne dass er ihnen einmal wehtun könnte. Das IOC hätte einen wie Papst Franziskus gebraucht, der auch in einem verkrusteten System gewählt wurde, aber inzwischen viele überrascht, die ihn gewählt haben.

Die Religion spielt bei den Terroranschlägen, die wir derzeit zu erleiden haben, eine entscheidende Rolle. Die Völkerverständigung ist auch eine olympische Idee. Gibt es die noch?

Franke: Der Religionsbezug bei Terroranschlägen ist ein eigenes Thema. Anschläge bei Großveranstaltungen auf unschuldige Menschen sind ein barbarischer Akt, der durch keine Religion gerechtfertigt werden kann. Die beschworene Völkerverständigung ist die eine Seite des Sports im Sinne der formalen Chancengleichheit aller Teilnehmer. Die andere Seite ist die Möglichkeit der parteiischen Solidarisierung mit dem Sieger, die durch die Nationenwertung noch eine gesellschaftliche Aufwertung erhält.

Gibt es noch Chancen für Veränderungen und sind IOC oder FIFA dazu noch in der Lage?

Franke: Nach dem augenblicklichen Stand der personellen „Erneuerung“ mit den alten Seilschaften erscheint dies äußerst unwahrscheinlich. Sie bereiten den Weg in eine Eventkultur und einen Olympiazirkus vor, mit dem man sich nicht mehr identifiziert, sondern den man höchstens noch konsumiert. Als Zuschauer kann man das vielleicht beklatschen, aber für die Identifikationsbrücke, die sich aus dem Glauben an eine Sonderwelt des geregelten Wettkampfes ergeben kann und die bis in den Kindergarten hineinwirkt, geht vieles verloren.

28.02.2021

Landpark Lauenbrück

12.02.2021

Winterlandschaft in Rotenburg

22.12.2020

Weihnachtsbilder

29.10.2020

Herbstfotos der Leser