Saint-Denis - Wie wild feiert das kleine Island sein Fußball-Märchen. Die Nation steht kopf, die Mannschaft fiebert England entgegen, und ein TV-Reporter wird zum Internet-Hit.
"Gummi Ben" schrie sich in Ekstase, der Bürgermeister von Reykjavik tanzte enthemmt durchs heimische Wohnzimmer, und im Stade de France jubelten 12.000 ungläubige Fans mit ihren Helden: Islands blaues Fußball-Wunder mit dem Achtelfinal-Einzug bei der EM hat eine ganze Nation in den Ausnahmezustand versetzt - und jetzt wartet auch noch Lieblingsgegner England!
"Wir sind verrückt nach englischem Fußball", sagte Trainer Heimir Hallgrimsson, der den 22. Juni spontan als neuen Nationalfeiertag ausrief: "Wir wissen alles über sie, aber sie nicht über uns. Ich habe keine Angst." Alle Isländer schauten die Premier League, meinte Kapitän Aron Gunnarsson, "das ist unsere Liga, das wird ein Riesenspaß. Wir werden bereit sein."
Wie gegen Portugal mit Superstar Cristiano Ronaldo. Wie gegen Ungarn. Und wie am Mittwoch beim historischen 2:1 (1:0) gegen Österreich. "Wir waren für alle nur Fallobst - jetzt sind wir unter den besten 16, ohne ein Spiel verloren zu haben", sagte Gunnarsson stolz.
Der Lauterer Jón Bödvarsson, der den ersten EM-Triumph des Neulings mit seinem Führungstor (19.) eingeleitet hatte, sprach vom "größten Tag in der Geschichte des isländischen Fußballs. Achtelfinale, England - das ist ein Jungstraum, das wird klasse!"
Das dachte wohl auch TV-Reporter Gudmundur Benediktsson, der sich beim Siegtor von Arnór Ingvi Traustason (90.+4) in den Wahnsinn kreischte. "Ja, ja, ja, ja, ja, wir gewinnen das!", schrie der ehemalige Nationalspieler - und wurde zum gefeierten Internethit. Als "Gummi Ben" oben auf der Tribüne mit schwindender Stimme den Österreichern "fürs Kommen" dankte, lagen sich unten Spieler, Trainer und Fans - darunter viele Freunde und Verwandte der Helden - in den Armen. Die Spieler machten in der jubelnden Menge Selfies.
"Es ist unglaublich, als stünde meine Familie am Spielfeldrand", sagte der überragende Abwehrspieler Kári Árnason, "ich kenne da wahrscheinlich die Hälfte der Leute." Torhüter Hannes Halldórsson schwenkte minutenlang eine riesige Island-Fahne vor dem Block, und der Eiffelturm leuchtete Blau-Weiß-Rot. "Daran werde ich mich erinnern, bis ich sterbe", sagte Gunnarsson.
Zu Hause tanzten Tausende auf den Straßen, als das Spiel mit dem nie für möglich gehaltenen Ergebnis - "Ísland tvö, Austurríki eitt" - zu Ende war. Auf dem Ingólfstorg, dem Marktplatz der Hauptstadt Reykjavik, dominierten die Farben "Blátt, rautt, hvítt". Dagur B. Eggertsson, Bürgermeister im Nationaltrikot, schnappte sich sein Söhnchen und hörte nicht mehr auf zu hüpfen. "Áfram Ísland", vorwärts Island, hallte über Geysire und Vulkane, das Morgunbladid berichtete von einem "wahren Volksfest" im ganzen Land.
Dass nun die "Three Lions" warten, steigerte die Euphorie ins Unendliche. "Ich war bei großen Turnieren immer für England", sagte Árnason, "das ist ein Traum." Der frühere Hoffenheimer Gylfi Sigurdsson meinte: "Auf den Engländern lastet fast übermenschlicher Druck, das wird richtig klasse."
Das denken auch die englischen Medien. Für die Times ist Islands Siegtreffer "das Tor, das England Hoffnung macht" - aufs Viertelfinale. Andere Blätter wortspielten: "NICE one", ein angenehmer Gegner also, dieses Iceland. Das aber dachten auch Ronaldo, David Alaba und Co.
sid