Das Handspiel im Viertelfinale der Europameisterschaft von Marc Cucurella hat in Deutschland die Gemüter erhitzt. Würde die passende Reaktion den Schmerz lindern?
Stuttgart - Die Europameisterschaft im eigenen Land hat für Deutschland am vergangenen Freitag gegen Spanien in Stuttgart ein abruptes Ende gefunden. Ganz tief in der Nachspielzeit haben die Gäste die Partie noch für sich entschieden und das DFB-Team ins Tal der Tränen gestürzt. Vor allem die 106. Minute blieb in Erinnerung: Jamal Musiala drückte ab, doch der ganz gefährlich auf das spanische Tor fliegende Ball klatschte gegen die Hand von Marc Cucurella.
Cucurella blieb „ruhig“ nach seinem Handspiel
Auf der Pressetribüne wurden die ersten Zeitlupen eingespielt. Und alle warteten in diesem Moment nur noch darauf, dass Schiedsrichter Anthony Taylor zu seinem TV-Gerät rennt, die Szene anschaut und auf den Punkt zeigt. Dann aber der Schock aus deutscher Sicht: Taylor lässt nach kurzer Kommunikation mit dem VAR weiterlaufen. Je häufiger die Bilder zu sehen sind, desto weniger ist das Verständnis für diesen Nicht-Pfiff vorhanden.
Statt sich mit einem „Sorry“ an die deutsche Öffentlichkeit zu wenden, wird im Nachhinein versucht, die Szene zu rechtfertigen. Cucurella selbst wird im Halbfinale zwischen Spanien und Frankreich im Blickpunkt stehen. Der Linksverteidiger sagte bei einer Pressekonferenz: „Der Ball hat meine Hand getroffen, aber ich war ruhig, als ich den Schiedsrichter sah. Wenn die Experten sagen, dass es kein Handspiel war, ist es kein Handspiel.“
Sorry? Im Gegenteil: Cucurella verweist auf Toni Kroos
Cucurella drehte den Spieß stattdessen lachend um: „Ich verstehe, dass es eine etwas fragwürdige Aktion ist. Aber ich denke, wenn Deutschland gewonnen hätte, hätten wir nicht darüber gesprochen. Wir hätten uns auch darüber beschweren können, dass Toni Kroos nicht des Feldes verwiesen wurde.“ Sicherlich hatte der Weltstar des DFB-Teams etwas Glück, dass er nicht schon früher Gelb sah. Ob Kroos dann allerdings weiter so in die Zweikämpfe gegangen wäre? Fraglich, bei dessen Erfahrungsschatz.
Warum nicht zugeben, dass es ein Blackout war bei dem Versuch, das Ausscheiden zu verhindern? Fehler sind menschlich. Statt für Klarheit zu sorgen und einen groben Patzer klar zu benennen, rückt ein Teil der Schiedsrichter-Lobby aus. Experte Michael Ballack ging bei Magenta TV aus dem Sattel und sagte: „Ein klareres Handspiel gibt es nicht.“ Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich entgegnete: „Die Sachlage ist in der Tat so, dass der Schiedsrichter sachlich und unemotional entscheiden muss. Wir haben einen Ermessensspielraum im Fußball.“
Rosetti zeigte vor Turnierbeginn das Beispiel Lukeba
UEFA-Schiedsrichter Roberto Rosetti ordnete vor Turnierbeginn die Handspielfrage ein. Als Musterbeispiel galt eine Szene, in der Manchester City einen Angriff mit einem Abschluss beendete und den in einer natürlichen Position angelegten Arm von Leipzigs Oastello Lukeba traf. Dies sei, so Rosetti, „niemals ein Elfmeter“. Wer sich die Szenen genau anschaut, erkennt aber schnell Unterschiede in Sachen Distanz und Armhaltung von Lukeba.
Warum etwa stellt sich der ohnehin umstrittene Taylor nach Abpfiff nicht den kritischen Fragen der Journalisten? Er hätte seine Entscheidung klar einordnen und sich auf die Ansagen von Rosetti beziehen können. War der englische Unparteiische doch nicht vollumfänglich überzeugt von diesem Pfiff? Das Thema Handspiel beschäftigt die Anhängerschaft schon lange. Wo ist die klare Linie? Warum ist bei manchen Szenen ein „Pulsschlag“ ausschlaggebend, bei Cucurella plötzlich aber nicht?
Ermessensspielraum: Was passiert wenn Vinčić bei ähnlicher Szene auf den Punkt zeigt?
Der „Ermessensspielraum“ macht eine Ahndung noch schwieriger. Auch das Fachmagazin kicker bezieht sich auf diesen bei der Bewertung des Schiedsrichters. Sprich: Wenn Slavko Vinčić beim Halbfinale zwischen Spanien und Frankreich bei einer vergleichbaren Situation auf den Punkt zeigt, wird es auch dann wieder heißen: Ermessensspielraum. Es ist ein Unwort, welches eine Bewertung beinahe unmöglich macht.
Aus der internationalen Presse waren es vor allem die Italiener, die Deutschland bedauert haben. Die Gazetta dello Sport etwa schrieb: „Taylor, du schon wieder! Für Mourinho war es ‚eine Schande‘, dieses Mal macht er Spanien ein Geschenk. Und der VAR?“ Auch die Tuttosport schrieb: „Merino, Held für Spanien in der Verlängerung: Deutschland k.o.! Der sensationelle Fehler von Taylor belastet den Spielverlauf, da er ein klares Handspiel von Cucurella im spanischen Strafraum nicht sanktionierte.“
Warum hatte sich Taylor die Szene nicht angeschaut?
Spanische Medien hingegen feierten nur ihre Mannschaft, ein „lo Siento“ war nicht zu lesen. Bei aller berechtigten Freude über ein Weiterkommen, wäre so etwas sportlich fair. Übrigens: Wie die „Daily Mail“ jetzt berichtet, wird Taylor beim Turnier in Deutschland kein Spiel mehr pfeifen. Ob das daran liegt, dass England noch im Turnier ist oder doch daran, dass die Szene auch bei den Regelhütern intern zu kontrovers diskutiert wurde?
Die Frage aller Fragen bleibt weiterhin: Warum nahm sich Taylor nicht die nötige Zeit und schaute sich die Bilder noch einmal in Ruhe und mit kühlem Kopf an? Ittrich sagte zwar: „Ich habe nur gesagt, dass der Videoassistent da nicht reingehen kann. Er muss Bilder liefern, die den Schiedsrichter von dem überzeugen, was er gesehen hat, oder eben nicht.“ Hier bewegt sich der Bundesliga-Schiedsrichter allerdings im Bereich der Spekulationen. Woher will Ittrich wissen, was Taylor wahrgenommen hat? So wird der VAR stets in der Kritik bleiben. Das Cucurella-Handspiel, es wird zumindest in Deutschland noch lange Zeit nachhallen.