Am Dienstag empfangen die Niederlande die deutsche Nationalmannschaft in der Nations League. Hollands Trainer-Legende Martin Jol im Interview.
Amsterdam - Am Dienstag (20.45 Uhr) empfangen die Niederlande Deutschland in Amsterdam. Martin Jol (68) lässt sich die Nations-League-Begegnung nicht entgehen. Als Trainer feierte der Holländer einst mit Kerkrade, Ajax Amsterdam, Tottenham oder dem Hamburger SV Erfolge. Was nur wenige wissen: Als Spieler stand er auch mal beim FC Bayern unter Vertrag. Das große Interview.
Herr Jol, wer ist aus Ihrer Sicht am Dienstag Favorit?
Normalerweise weiß ich das immer schon im Vorhinein. Aber aktuell ist es schwierig für mich einzuschätzen. Beim 5:2 gegen Bosnien-Herzegowina hat die holländische Mannschaft im 4-3-3 gut agiert. Wenn wir wieder so ähnlich auftreten und pressen, haben wir eine Chance. Aber Deutschland spielt unter Nagelsmann auch gutes Pressing.
Was gefällt Ihnen an der DFB-Elf?
Nach vorne ist die Mannschaft unheimlich talentiert. Ich denke an Musiala, Wirtz und Havertz. Musiala und Wirtz haben Genialität. Sie spielen sehr gut in den Halbräumen und sind schwer zu verteidigen. Aber ab und zu ist es ein bisschen zu voll in der Mitte. Aus meiner Sicht fehlt ein Außenspieler wie Sané, der dieses Mal verletzt nicht dabei ist. Ein solcher Spieler auf der Flanke, dazu Wirtz auf der Zehn und Musiala auf der linken Seite, wo er auch gut ist – dann hätte Deutschland einen der besten Angriffe in Europa. Ich erinnere mich auch an ein Spiel 2019 in Amsterdam, als Serge Gnabry uns fertig gemacht hat. Aber auch so ist die Offensive der beste Teil der Mannschaft.
Martin Jol über Ex-DFB-Star Kroos: „War eine Passmaschine“
Mit Toni Kroos hat ein wichtiger Passgeber seine Karriere nach der EM beendet.
Ich finde, im zentralen Mittelfeld weiß man nicht, was man erwarten kann. Wenn ich ehrlich bin, ist Groß ein guter Spieler. Auch mein Freund und ehemaliger Tottenham-Assistent Chris Hughton, der ihn bei Brighton trainiert hat, spricht sehr positiv über ihn. Aber er ist Groß – und kein Kroos. Kroos war eine Passmaschine. Wir haben Veerman, der eventuell beginnen könnte und ähnliche Stärken hat. Neben Groß spielt Andrich. Ich glaube, das Mittelfeld von Holland ist besser.
Wieso?
Schouten macht seine Sache sehr gut im Moment, das hat er auch bei der EM gezeigt. Reijnders kann für den Gegner ebenfalls gefährlich sein. Ganz vorne ist Zirkzee neu in der Mannschaft. Aber er ist noch kein van Basten. Am Dienstag wird Brobbey beginnen, aber er ist nicht wirklich konstant. Holland hat hier eine ähnliche Situation wie Deutschland: Der Superstürmer fehlt. Wenn man die Spieler vergleicht, ist das deutsche Team vorne insgesamt besser. Wir haben Xavi Simons. Er ist gut und der kreativste Spieler bei uns, aber er ist kein Musiala und kein Wirtz. Allerdings sind wir hinten stärker. Deutschland fehlt in der Innenverteidigung so ein Anführer wie van Dijk, der bei uns der klare Abwehrchef ist. Die DFB-Elf hat mit Kimmich einen unglaublichen Spieler und Leader, aber generell hat die DFB-Elf aktuell nicht mehr so viele Persönlichkeiten wie früher. Alles in allem wird es ungefähr ein Duell auf Augenhöhe.
Martin Jol über Matthijs de Ligt: „Glaube, dass er dem FC Bayern fehlen wird“
Matthijs de Ligt war einst das größte Abwehr-Talent. Als Kapitän von Ajax Amsterdam ist er 2019 zu Juventus gewechselt. Nun hat er den FC Bayern nach nur zwei Spielzeiten in Richtung Manchester United verlassen. Hat er aus Ihrer Sicht den richtigen Durchbruch geschafft?
Das Gegenteil zu behaupten, wäre ein bisschen billig. Er war mit 18 Jahren jüngster Spielführer bei Ajax. Auch bei Juventus hat er es in seinem ersten Jahr sehr gut gemacht. Lothar Matthäus hat gesagt, dass es nicht gut für die Bayern ist, dass sie de Ligt verkauft haben. Er war der einzige Innenverteidiger mit richtigem Profil. Ich glaube auch, dass er dem FC Bayern fehlen wird. Man darf de Ligt nicht unterschätzen. Er ist knallhart, kann Fußball spielen und ist ein sehr guter Junge. Ja, er hat ab und zu keine guten Momente. Aber die hat van Dijk auch. Und er war der teuerste Verteidiger in England. Ich denke, de Ligt wird viel zu streng bewertet.
Sie haben vorhin auch das frühere Bayern-Talent Zirkzee schon angesprochen. Gegen Bosnien-Herzegowina hat der aktuelle Stürmer von Manchester United immerhin sein erstes Tor für die A-Nationalmannschaft gemacht.
Das Tor war ein bisschen glücklich, finde ich. Er hat nicht sehr gut, aber auch nicht schlecht gespielt aus meiner Sicht. Ich denke, Weghorst wird ein bisschen unterschätzt. Nach einem Streit im Training am Sonntag hat er den Platz verärgert verlassen. Für einen Spieler wie ihn, der immer ein Tor macht, wenn er reinkommt, ist es schwer zu verdauen, dass er nur als Plan B bewertet wird. Da geht es ihm ähnlich wie Füllkrug. Aber beide waren bislang in der aktuellen Situation die besten Neuner ihrer Nationalmannschaften.
Für große Aufregung in den Niederlanden hat der Wechsel von Steven Bergwijn nach Saudi-Arabien gesorgt. Trainer Koeman hat ihn sofort ausgemustert. Hätten Sie als Bondscoach auch so reagiert?
Er hat seine Aussagen bereut. Das hat er nach dem Spiel gegen Bosnien-Herzegowina auch zugegeben. Wijnaldum hat er auch bei der EM spielen lassen, obwohl er ebenfalls in Saudi-Arabien spielt. Cristiano Ronaldo ist bei Portugal immer noch dabei. Die Engländer haben auch gesagt, dass sie weiterhin auf Toney setzen werden, wenn er gute Leistungen zeigt. Die Sätze von Koeman waren verfrüht. Wobei man auch ohne den Wechsel zu Al-Ittihad sagen muss, dass es nicht sicher gewesen wäre, dass Bergwijn immer noch für die Nationalmannschaft nominiert werden würde.
Martin Jol über Julian Nagelsmann: „Ein sehr talentierter Trainer“
Ist Koeman aus Ihrer Sicht ein guter Trainer?
Blickt man auf die erfolgreiche Generation der Holländer, die 1988 Europameister wurde, ist er der einzige richtige Trainer. Die anderen wollten auch Trainer sein, aber sie haben das nicht hinbekommen. Koeman hatte eine gute Spielerkarriere und er ist ein guter Coach.
Und Nagelsmann?
Er ist ein sehr talentierter Trainer. Bei Bayern hatte er auch Phasen, in denen man sich gefragt hat, ob er wirklich so gut ist, wie man denkt. Das ist schwierig zu beurteilen. Aber Fakt ist: Wenn Trainer Leidenschaft haben und gute Resultate liefern, dann sind sie gute Trainer.
Mit Roda Kerkrade und Ajax Amsterdam wurden Sie holländischer Pokalsieger. Auch bei Tottenham, Fulham und Hamburg haben Sie einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Den HSV haben Sie 2008/2009 beispielsweise sogar in zwei Halbfinals – UEFA Cup und DFB-Pokal – geführt. 2016 haben Sie nach ein paar Monaten und dem Meistertitel bei Al-Ahly in Ägypten Ihre Trainerkarriere beendet. Wollen Sie nicht noch mal auf die Bank zurückkehren?
Nein. Ich hatte nicht mehr wirklich die große Leidenschaft für diesen Job. Meine früheren Spieler haben mich 2016 angerufen und mich überredet, nach Ägypten zu gehen. 2017 hatte ich einen kleinen Verschluss im Herzen, seitdem habe ich einen Stent. Da habe ich mir gedacht, ich muss diese Anspannung und den Stress nicht mehr haben, obwohl ich früher sehr gut damit umgehen konnte. Aber ich wollte einfach kein Risiko mehr eingehen. Ich genieße mein Leben jetzt.
Was machen Sie heute?
Ich bin oft mit meiner Familie in meinen Häusern in England, Holland und Spanien. Ich mache täglich Sport. Auch meine zwei Schäferhunde bereiten mir große Freude. Zudem bin ich ein begeisterter Sammler von Kunst geworden. Und wenn man auf meine Homepage geht, sieht man, dass ich seltene Trikots – auch vom FC Bayern – für den guten Zweck versteigere. Die Erlöse meiner Initiative „Who cares wins“ kommen Menschen und Kindern in Not zugute.
Martin Jol spricht über seine Zeit beim FC Bayern
Was wenige noch auf dem Schirm haben: 1978/79 haben Sie eine Saison lang für Bayern gespielt. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Ich habe nur neun Spiele gemacht. Aber wenn man jung ist, hat man keine Geduld. Ich hatte immer Heimweh. Ich hatte pro Monat 2000 Mark Telefonkosten. Dann kam mein Freund Jupp Kapellmann mal zu mir und sagte, ich solle mal nach Hause fahren. Aber das konnte ich nicht. Er war ja mein Konkurrent auf meiner Position… (lacht) In Sachen Mentalität ist der FC Bayern knallhart. Der Club will immer gewinnen. Und wenn man gewinnt, ist das der beste Verein. Die Anfangszeit war gut für mich. Aber später habe ich zwischenzeitlich nur noch 76 Kilo gewogen – normalerweise hatte ich 80 –, weil es nicht so lief wie erhofft. Uli Hoeneß sagte zu mir: „Du bleibst noch zwei Jahre und dann kriegst du einen sauberen Vertrag“ Ich hatte einen leistungsbezogenen Kontrakt. Aber ich habe ja kaum gespielt, da blieb nicht viel übrig. Ich bin dann zurück nach Holland zu Twente gewechselt.
Ein paar Monate später sind Sie mit der niederländischen Nationalmannschaft gegen Deutschland auf alte Weggefährten aus München getroffen.
Stimmt. Klaus Augenthaler hat mich überrascht gefragt: „Ja, was machst du denn hier?!“ (lacht) In Sachen Talent war ich gut. Aber ich hatte damals nicht die Mentalität, um mich beim FC Bayern durchzubeißen. Dennoch war es eine lehrreiche Zeit für mich. Und ich muss sagen: Große Spieler wie Paul Breitner, Gerd Müller, Franz Beckenbauer oder auch Uli Hoeneß sind die nettesten Menschen, die man sich vorstellen kann. Auch der damalige Präsident Wilhelm Neudecker war unglaublich. Leider war ich nicht mehr an der Säbener Straße gewesen. Ich hatte ja sportlich gesehen nicht die beste Zeit in München. Aber mittlerweile denke ich mir, ich hätte – wie bei meinen anderen früheren Clubs – öfters mal vorbeischauen sollen. (Philipp Kessler)