Rio de Janeiro - Wayde van Niekerk lief einen Fabel-Weltrekord, und es ging beinahe unter. Im Schatten von Usain Bolt hat der 400-m-Olympiasieger aus Südafrika die Bestmarke des großen Michael Johnson ausgelöscht.
Wayde van Niekerk hockte sich auf die stille Treppe und schaute Usain Bolt bei dessen Gold-Sprint zu: Der neue 400-m-Weltrekordler blieb im größten Moment seines Sportlerlebens ein Nebendarsteller. "Bolt ist der König. Ich bin einfach froh, hier zu sein", sagte der Südafrikaner, nachdem er im olympischen Finale von Rio die Bestmarke des großen Michael Johnson in Schutt und Asche gerannt hatte.
Nach 43,03 Sekunden für die Geschichtsbücher stand der ohnehin introvertierte van Niekerk verloren mit der südafrikanischen Flagge auf der blauen Bahn des Olympiastadions, und eigentlich interessierte sich niemand für ihn. Unmittelbar nach der 400-m-Entscheidung marschierten die 100-m-Finalisten ein, und Bolt zog wie ein schwarzes Loch sämtliche Aufmerksamkeit auf sich.
Großes Lob von einem anderen Weltrekordler
Weil der große Bolt aber nicht nur ein mitunter clownesker Alleinunterhalter sein kann, sondern auch ein feines Gespür für solche Situationen hat, führte einer seiner ersten Wege nach seinem ersten Goldlauf zu van Niekerk. Bolt umarmte ihn, plauderte von Weltrekordler zu Weltrekordler - und alles war gut.
"Wenn einer das hier heute schaffen konnte, dann Wayde - er ist wirklich sauschnell", meinte Bolt. Van Niekerk, vom Typ her das genaue Gegenteil des Jamaikaners, ein "Anti-Bolt", verneigte sich höflich: "Ich habe Athleten wie ihn immer bewundert, jetzt habe ich meine eigene Geschichte geschrieben."
Und was für eine: Nach einem Traumlauf blieb der 24 Jahre alte Kapstädter 15 Hundertstel unter der alten Bestmarke, die Johnson 1999 bei der WM in Sevilla erzielt hatte. 61 Jahre lang war der Weltrekord durchgehend in US-Besitz gewesen war. Es war eine jener Bestmarken, die in Stein gemeißelt schienen - auch wenn van Niekerk im Vorjahr, als er als Überraschungs-Weltmeister von Peking erstmals für Staunen gesorgt hatte, schon bis auf drei Zehntel herangelaufen war.
Ritterschlag des Gestürzten
Der entthronte Johnson, in Rio als TV-Experte im Stadion dabei, reagierte einigermaßen fassungslos. "So etwas habe ich noch nie gesehen, nicht auf 200, nicht auf 400 m", sagte der 48-Jährige. Das war ein Ritterschlag, schließlich hatte er einst seinen Weltrekord über die halbe Stadionrunde an Bolt verloren: "Beide Weltrekorde sind jetzt in guten Händen", sagte Johnson.
Er erlebte staunend mit, wie van Niekerk in Rio das Feld förmlich zerlegte. London-Olympiasieger Kirani James (Grenada/43,76) als Zweiter und Peking-Olympiasieger LaShawn Merritt (USA/43,85) als Dritter waren chancenlos. Van Niekerk lief in einem Bereich, in dem sich zwangsläufig - wie beim ersten Rio-Weltrekord durch 10.000-m-Olympiasiegerin Almaz Ayana - Fragen auftun.
Und so musste der strenggläubige Südafrikaner, der in der nächtlichen Presserunde ein Dutzend Mal dem Herrn dankte, immer wieder erklären, dass seine Fähigkeiten auf göttlichen und nicht medizinischen Segnungen beruhen. "Ich weiß, dass ich sauber bin", sagte van Niekerk: "Ich muss nicht jedermanns Liebling sein. Ich konzentriere mich auf mich, setze einen Fuß vor den anderen. Das ist das Talent, das mir Gott gegeben hat."
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SID