Saint-Denis - Die Ähnlichkeiten mit der glorreich beendeten WM 2014 sind sichtbar. Nach dem zweiten Turnierspiel in Frankreich sind Reaktionen gefordert - auch von Bundestrainer Löw.
Es wird heiß diskutiert in der Abgeschiedenheit des Kurortes Évian-les-Bains. Der Fußball-Weltmeister ist auf seiner Tour de France, die am 10. Juli in Paris mit dem vierten EM-Titel gekrönt werden soll, ein Stück weit aus dem Gleichgewicht geraten. Hauptdarsteller wie Jérôme Boateng wählten nach dem torlosen Remis gegen Polen deutliche Worte. Besonders die Defizite in der weltmeisterlichen Offensive sorgen für ungewohnte Ratlosigkeit in der deutschen Nationalelf. „Das müssen wir ändern, sonst kommen wir nicht weit“, sagte Abwehrchef Boateng zum aktuellen Torlos-Status der EM-Offensive in den Katakomben des Stade de France. Die Mahnung darf durchaus als Weckruf verstanden werden.
Das 0:0 gegen robuste und defensivstarke Polen im zweiten Gruppenspiel konnte die Frage noch nicht beantworten, ob die Auswahl von Bundestrainer Joachim Löw 2016 tatsächlich wieder titeltauglich ist. „Das knabbert natürlich so direkt nach dem Spiel schon an uns Offensivspielern. Mich persönlich stört gar nicht, dass ich noch kein Tor geschossen habe bei einer EURO, sondern dass ich die letzten zwei Spiele eigentlich keine wirkliche Tormöglichkeit hatte“, bemerkte Thomas Müller, der Torjäger im Wartestand.
Erstmals seit 2004 ist den deutschen Angreifern in den ersten zwei Turnierspielen kein Tor gelungen. Bei den Endrunden danach war stets Verlass auf die Offensivabteilung gewesen: Von 2006 bis 2014 gingen 18 von 23 Treffern auf ihr Konto.
Löw will "das eine oder andere anzugehen"
Löw
muss bis zum letzten Gruppenmatch am Dienstag gegen die Nordiren Lösungen finden, um die Balance zwischen Defensive und Offensive wieder herzustellen. Die plötzliche Aufgeregtheit in der Heimat - über 27 Millionen sahen die Nullnummer an den TV-Geräten - schwappte auch in die Idylle des DFB-Basisquartiers am Genfer See. Für Zweifel oder gar Panik sieht der Bundestrainer aber keinen Grund: „Natürlich heißt es jetzt, nach der Rückkehr in Évian den einen oder anderen Tag zu regenerieren. Dann können wir im Training und bei den Sitzungen arbeiten, mal wieder einige Dinge trainieren. Da haben wir schon die Chance, das eine oder andere anzugehen.“
Noch ist nichts Gravierendes passiert bei der EM-Mission des Weltmeisters. Mit vier Punkten führt das Team weiter die Tabelle der Gruppe C an. Die Defensive hat sich im Vergleich zum 2:0-Auftakt gegen die inzwischen bereits ausgeschiedene Ukraine auch durch die Rückkehr von Mats Hummels deutlich stabilisiert. „Mats hat sein erstes Spiel gemacht nach der Verletzung. Das war schon hervorragend. Beide Innenverteidiger haben schon sehr gut verteidigt“, sagte Löw. Kapitän Bastian Schweinsteiger war gegen Polen keine Option als Einwechselspieler, da der Trainer offensiv reagieren musste.
Hummels erinnert an das zweite WM-Spiel 2014
Der Neu-Münchner Hummels selbst erinnerte an das zweite WM-Spiel vor zwei Jahren in Brasilien: „Da haben wir gegen Ghana mit Ach und Krach einen Punkt geholt. Man darf jetzt nicht in der Nachbetrachtung, nur weil wir Weltmeister geworden sind, so tun, als hätten wir 2014 alle an die Wand gespielt.“
Mittelstürmer Mario Gomez, der als Einwechselkraft in der zweiten Hälfte gegen Polen die Offensivblockade auch nicht lösen konnte, forderte Vertrauen zu Chef Löw und dessen Stab. „Lassen wir ihn machen, er wird schon das Richtige tun“, sagte der 30-Jährige. Die DFB-Auswahl gewann unter Löw zwar nur eine von jetzt fünf zweiten Turnierpartien. Doch im dritten und entscheidenden Gruppenspiel konnte der Schalter immer umgelegt werden: Stets wurde gewonnen.
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"Ab der K.o.-Phase darf man keine schlechte Phase mehr erwischen"
Auch deshalb verkündete der Bundestrainer unaufgeregt: „Für uns wird es jetzt keine Veränderungen bringen. Nordirland hat auch gewonnen. Wir führen die Gruppe an. Unser Anspruch ist es, weiterzukommen und die Gruppe zu gewinnen.“ Löw weiß jedoch genau, dass er die kleinen Alarmhinweise aufgreifen muss. „Wir haben jetzt einen Tag mehr Pause, können das eine oder andere trainieren. Ab der K.o.-Phase darf man keine schlechte Phase mehr erwischen, braucht Topniveau, darf sich keinen Fehler mehr erlauben“, sagte der Bundestrainer.
Deshalb wird er seine bisherige taktische und personelle Strategie überdenken. Gegen massiv verteidigende und schnell konternde Gegner griff sie nur teilweise. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass die nächsten Teams auch so spielen und müssen versuchen, in den nächsten Tagen Lösungen zu finden“, sagte Stürmer Gomez.