Frankreich 2002, Italien 2010, Spanien 2014: Bei drei der letzten vier WM-Turniere schied der Weltmeister in der Gruppenphase aus. Das ist eine Warnung auch für Turnierspezialist Löw, der mit sportlichem Ballast und atmosphärischen Störungen nach Russland aufbricht.
Leverkusen - Manuel Neuer begleitete seine Dressur reitende Frau Nina zu einem Turnier im Sauerland. Mario Gomez genoss nochmal das „schöne Gefühl als Papa“ mit dem vier Wochen alten Sohn Levi. Thomas Müller verbreitete ein Ausflugsfoto mit Ehefrau Lisa zum Schloss Neuschwanstein: „Bayern ist wunderschön.“ Miroslav Klose konnte seinen 40. Geburtstag mit der Familie feiern. Und auch Joachim Löw gönnte sich am Wochenende ein wenig Müßiggang, obwohl der Bundestrainer kurz vor dem WM-Ernstfall gegen Mexiko mit zahlreichen sportlichen Baustellen und heftigen atmosphärischen Störungen rund ums Team zu kämpfen hat. Das Projekt Titelverteidigung steht nach dem mauen 2:1 (2:0) gegen Saudi-Arabien auf tönernen Füßen.
Bayern is beautiful. Fantastic trip with my wife Lisa to Schloss Neuschwanstein. #esmuellert #HappySunday #Bayern #Neuschwanstein pic.twitter.com/7SEHJDl2ML
— Thomas Müller (@esmuellert_) 10. Juni 2018
„Diese zwei freien Tage tun mir auch mal gut. Im Trainingslager war es ja doch so, dass man ständig präsent sein musste von morgens bis spätabends. Ein, zwei Tage durchschnaufen - und dann wieder Gedanken machen nach vorne“, sagte Löw zu seinem Programm bis zum Abflug des DFB-Trosses nach Russland an diesem Dienstag. Einer dagegen konnte nicht abschalten: Ilkay Gündogan versucht auch nach den Pfiffen in Leverkusen, einen Ausweg aus der selbst ausgelösten Affäre um das Treffen und die Fotos von ihm und Mesut Özil mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu finden. Der 27-Jährige schrieb trotz der Unmutsbekundungen vieler deutscher Fans bei Twitter: „Letztes Spiel vor der Weltmeisterschaft und immer noch dankbar, für dieses Land zu spielen.“ Gündogan gibt seinen WM-Traum nicht auf.
Last game before the World Cup... and still grateful to play for this country // Letztes Spiel vor der Weltmeisterschaft ️... und immer noch dankbar, für dieses Land zu spielen #DieMannschaft #ZSMMN #BestNeverRest #RoadToWorldCup @DFB_Team pic.twitter.com/2YVUCdaPkP
— Ilkay Gündogan (@IlkayGuendogan) 9. Juni 2018
Unbeschwert und mega-optimistisch können aber weder Löw noch seine Spieler die Reise ins WM-Land antreten. Denn abgesehen von dem auch die Mannschaft beeinflussenden Özil-Gündogan-Erdogan-Wirbel ist der Weltmeister auch sportlich von einer ermutigenden Verfassung noch weit entfernt. „Wir müssen sicherlich noch drauflegen, klar“, gab Löw nach der Generalprobe gegen WM-Leichtgewicht Saudi-Arabien zu. Zugleich beschwichtigte er: „Wenn es losgeht, werden wir da sein!“
Das haben die Franzosen 2002, die Italiener 2010 und zuletzt die Spanier 2014 in Brasilien auch gedacht: Und dann? Schieden sie als Titelverteidiger in der Gruppenphase aus. Bei drei der letzten vier WM-Turniere fuhr der Weltmeister bereits nach der Vorrunde heim!
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An eine Fortsetzung dieses Weltmeister-Fluches mag beim aktuellen Champion (noch) keiner denken. „Wir sind eine Turniermannschaft“, sagte WM-Neuling Marco Reus, der einzige Lichtblick beim letzten Probelauf. Teamsenior Gomez sagte zwar: „Beim Turnier müssen wir uns schon straffen. Da dürfen wir so eine Leistung nicht bringen.“ Aber zugleich warnte der 32-Jährige vor Panikmache: „Wenn wir jetzt ratlos wären, wäre es etwas anderes. Wir wissen ganz genau, was los war.“
Was war denn los? Bis auf Özil (Knieprellung) schickte Löw die Wunschelf für das Auftaktspiel gegen die Mexikaner auf den Platz, die ihren letzten Test übrigens beim 0:2 in Dänemark völlig vermurksten. Im Moskauer Luschniki-Stadion, wo am 15. Juli das Finale ausgetragen wird, dürften in Neuer, Boateng, Hummels, Khedira, Kroos, Müller, Özil und Draxler gleich acht Weltmeister auflaufen. Dazu kommen die Confed-Cup-Gewinner und WM-Neulinge Joshua Kimmich, Jonas Hector und Timo Werner, der in Leverkusen das frühe Führungstor erzielt hatte.
Der 22-Jährige erinnerte an seine Kindheit: „Da waren die Deutschen in den Vorbereitungsspielen vor der WM nie so prickelnd. Und am Ende sind wir mindestens immer ins Halbfinale gekommen.“ So war es bislang auch bei jedem der fünf großen Turniere mit Löw als Chefcoach. „Ich will und kann nichts versprechen vom Ergebnis her. Aber wir werden alles reinwerfen“, erklärte Titelspezialist Toni Kroos: „Mit Hingabe können wir ein sehr gutes Turnier spielen.“
Personelle Situation ist gut wie lange nicht
Es gibt positive Anzeichen, die aber zugleich Fragezeichen sind. Der Fuß von Torwart Neuer scheint einer Turnierbelastung standhalten zu können. Auch der Oberschenkel von Abwehrturm Jérôme Boateng hielt ein 45-Minuten-Comeback aus. Sami Khedira geht endlich mal topfit in ein Turnier. Müller ist sowieso der WM-Müller (je fünf Tore 2010 und 2014). Und Offensivmann Reus könnte ein Trumpf sein, der wie Mario Götze im Finale von Rio 2014 sticht. „Ich bin überzeugt, dass er wichtige Akzente setzen kann und einen wesentlichen Beitrag leisten wird, dass wir in diesem Turnier hoffentlich sehr weit kommen“, sagte Löw.
Gegen die Saudis fehlte noch der notwendige WM-Ernst im DFB-Team. „Es hat sich so angefühlt, als wenn wir Angriffsschemen trainieren und da irgendwelche Stangen stehen“, rügte Kapitän Neuer. Um Defensivarbeit wollte sich kaum jemand kümmern. „So ist es schwer“, sagte Khedira mit Blick auf die angestrebte Titelverteidigung.
Geredet wurde hinterher aber fast nur über die Unmutsbekundungen gegen Gündogan. Der Abend in Leverkusen bewies, dass die Fotos von ihm und Özil mit Erdogan für viele deutsche Fußball-Anhänger ein No-Go von Nationalspielern darstellen. Die Affäre schaukelte sich noch weiter hoch. „Das hat mich schon geschmerzt“, sagte Löw.
Während die Verbandsspitze mit ihrem Krisenmanagement gescheitert ist, versuchen es die Kollegen des beharrlich schweigenden Özil und des wenigstens um Erklärungen bemühten Gündogan mit Appellen an die Fans. „Ab jetzt bitte ich die Leute einfach darum, daran zu denken, dass wir Weltmeister werden wollen. Dafür brauchen wir den Illy, dafür brauchen wir den Mesut“, sagte Angreifer Gomez, früher selbst Zielscheibe pfeifender Anhänger bei Spielen im Deutschland-Trikot.
dpa